Zum Inhalt springen

Krankenkassen Druck auf psychisch Kranke wächst

Krankenkassen mischen sich zunehmend in die Behandlung psychisch Kranker ein. Sachbearbeiter drohen mit Kürzungen und drängen Patienten zum Arbeiten. Das soll Geld sparen, doch die Versicherer erreichen oft gerade das Gegenteil, warnen Therapeuten.
Therapiesitzung: Manche Patienten werden durch die Anrufe zurückgeworfen

Therapiesitzung: Manche Patienten werden durch die Anrufe zurückgeworfen

Foto: Corbis

Sie sind depressiv, machen nur eine Psychotherapie und nehmen keine Antidepressiva? Dann bekommen Sie kein Geld mehr von der Krankenkasse. - Lassen Sie sich stationär behandeln, sonst streichen wir Ihr Krankengeld! - Sie hatten doch schon eine Reha. Jetzt müssen sie wieder arbeiten gehen, sonst bezahlen wir die ambulante Weiterbehandlung nicht.

Solche und ähnlich Aussagen müssen sich gesetzlich Krankenversicherte, die wegen einer psychischen Erkrankung krankgeschrieben und in Psychotherapie sind, offenbar immer öfter anhören, berichtet die Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV) . Auch SPIEGEL ONLINE hat bereits über solche Fälle berichtet.

Der Therapeutenverband hat jetzt Erfahrungsberichte von Psychotherapeuten und deren Patienten gesammelt. Die Schilderungen erschrecken . Darauf müssen psychisch Kranke sich offenbar gefasst machen:

Aufforderung zur Kündigung

Die Betroffenen werden von Sachbearbeitern angerufen oder zu einem persönlichen Gespräch einbestellt und dann bedrängt, persönliche Angaben zu ihrer Erkrankung, Psychotherapie und Privatleben zu machen. Ihnen wird der Wechsel des Psychotherapeuten oder Hausarztes nahe gelegt und gesagt, sie sollten möglichst bald wieder ihre Arbeit aufnehmen. Manchmal heißt es auch, sie sollten ihren Arbeitsplatz einfach kündigen. Davon würde die Krankenkasse doppelt profitieren: Sie müsste kein Krankengeld mehr bezahlen, denn der Unterhalt kommt dann vom Arbeitsamt, das zugleich die Krankenversicherungsbeiträge übernimmt.

Drohung mit Leistungsverlust

Nicht selten drohen die Kassenmitarbeiter damit, das Krankengeld oder die Kostenübernahme einer Psychotherapie zu streichen, wenn die Versicherten nicht spuren. In einem Fall drohte die Sachbearbeiterin mit Geldentzug, weil die Patientin keine Antidepressiva einnahm. Ein anderer Kassenmitarbeiter drängte eine Versicherte zu einer stationären Behandlung und drohte mit Kürzungen. Dabei rieten sowohl der ambulante Psychotherapeut der Betroffenen als auch der ambulant behandelnde Psychiater von einer Klinikeinweisung ab.

Ziel: Kosten abwenden

Die Schikanen sollen offensichtlich Kosten sparen. Denn zum einen steigt die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage unter Arbeitnehmern seit Jahren rapide an. Vor allem psychisch Erkrankte fallen meist mehrere Wochen bis Monate aus. Ab einem bestimmten Zeitpunkt ersetzt dann das Krankengeld der Krankenkasse die Lohnzahlungen. Zugleich klettert auch der Bedarf an ambulanter Psychotherapie nach oben, weil Erkrankte sich heute eher in Behandlung begeben als noch vor einigen Jahren. Auch hier nehmen die Kosten für die Kassen seit Jahren zu.

Folge: Längere Krankheit

"Die Forderungen der Krankenkassen deuten aber nicht nur darauf hin, dass sie Geld sparen wollen, sondern auch darauf, dass die Mitarbeiter nicht wissen, was eine psychische Erkrankung für die Betroffenen bedeutet und welche Behandlungsmöglichkeiten überhaupt sinnvoll sind", sagt Barbara Lubisch. Die Einmischung der Kassen beschleunige die Genesung keinesfalls; die Folgen solcher Anrufe und Gespräche seien für die Patienten verheerend und auch für die Kassen kontraproduktiv.

Der Druck der Kassen wirft viele Betroffene zurück oder verhindert einen Behandlungsfortschritt. "In den Therapiesitzungen müssen dann erst einmal die Auswirkungen der Krankenkassendrohung verarbeitet werden, statt dass die eigentlichen Probleme besprochen werden können", sagt die DPtV-Vorsitzende. Schlaflose Nächte, erhöhter Blutdruck, erneute Zweifel an sich selbst könnten die Folgen sein.

Kassen rechtfertigen sich

Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen rechtfertigt die Nachfragen. "Es ist die Aufgabe der Krankenkassen, gerade langfristig oder chronisch Erkrankten mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Es ist ein schwieriger Balanceakt, einerseits aktiv auf kranke Menschen zuzugehen, um ihnen Hilfe anbieten zu können, ihnen aber andererseits keinesfalls das Gefühl zu geben, dass sie bedrängt würden. Wenn Kassenmitarbeitern dieser Balanceakt in Einzelfällen nicht gelingt, dann bedauern wir dies", sagt ein Sprecher.

"Sie beraten nur? Das ist eine Schutzbehauptung", sagt der Unternehmensberater Daniel Wagner*. Er hat ein Netzwerk aus betroffenen Versicherten und Fachanwälten gegründet, nachdem seine Lebensgefährtin von der Krankenkasse so sehr unter Druck gesetzt wurde, dass sie einen Rückfall in die Depression erlitt. SPIEGEL ONLINE hat über den Fall berichtet.

Wagner schätzt, dass die Dunkelziffer der Versicherten, die von ihren Krankenkassen schikaniert werden, vor allem unter den psychisch Kranken hoch ist, "denn die wenigstens von ihnen trauen sich, sich zu wehren und an die Öffentlichkeit zu gehen." Seine Lebensgefährtin hat mit seiner Unterstützung die Krankenkasse wegen Nötigung verklagt. Das Verfahren wurde zunächst eingestellt, vor kurzem aber von der Staatsanwaltschaft wieder aufgerollt.

* Name von der Redaktion geändert