Irgendwann war selbst der Weg zur Dusche zu anstrengend. Auch das Einkaufen wurde zur Qual: Kristina Wilms stand vor den Regalen, konnte sich nicht entscheiden, was sie in den Wagen legen sollte. In sich spürte sie nichts als Leere. Andere Menschen fühlten sich unendlich weit weg an. Als sie es schließlich tagelang nicht mehr aus dem Haus schaffte, nur noch weinend am Küchentisch saß, war es soweit. Sie ließ sich in eine psychiatrische Klinik einweisen. Die Diagnose: eine manifeste Depression.

"Da gibt es doch eine App gegen!" Wem es geht wie Kristina Wilms, der wird bald diesen Tipp kriegen. Am Smartphone Tagebuch führen, um zu erkennen, welche Alltagssituationen die depressive Stimmung lindern oder verschlimmern – die Abstinenz von einer Droge tracken und für jeden Tag, an dem man clean blieb, Punkte einsammeln – durch Übungen am Rechner eine gesunde Wahrnehmung für den eigenen Körper bekommen. All das gibt es schon. Krankenkassen, Pharmafirmen und kleine Start-ups entwickeln derzeit jede Menge weiterer digitaler Therapieangebote. Die Nachfrage scheint riesig zu sein.  

Eine der Entwicklerinnen so einer Psycho-App ist Kristina Wilms selbst. Sie hat während ihrer klassischen Therapie gemerkt, dass vieles von dem, was ihr der Arzt als Hausaufgabe gab, digital schneller, übersichtlicher und einfacher zu machen wäre. Sie gründete Arya, eine App, mit der Depressionspatienten Fragebögen bearbeiten: eine Unterstützung für Patienten, die bereits einen Therapeuten haben. Den Arzt ersetzen, das kann und soll Arya nicht. Eine Idee, vor der andere Entwickler aber keineswegs zurückschrecken.

Kann das funktionieren – Maschinen statt Menschen, wenn es um unser Innerstes, eine verletzte oder erkrankte Seele geht?

Das Handy soll herhalten, wo Therapeuten fehlen

Der Bedarf jedenfalls wäre da. Allein in Deutschland erkranken pro Jahr rund zehn Millionen Menschen an einer Angststörung (Nervenarzt: Jacobi et al, 2016) – etwa genauso viele sind von etwas abhängig (Jacobi, 2016), die meisten von Nikotin und Alkohol*. Eine echte Depression bekommt gut jeder Zehnte, mehr als jeder Vierte leidet zumindest an leichteren depressiven Symptomen. Und eine von hundert Frauen wird im Laufe ihres Lebens magersüchtig.

Die passende professionelle Behandlung bekommen die wenigsten. Nur ein Viertel aller Frauen und nur jeder Zehnte Mann, bei dem die Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland zufällig eine psychische Erkrankung diagnostiziert hatte, wurde im Jahr davor auch therapiert (International Journal of Methods in Psychiatric Research: Mack et al, 2014).

Vielfach scheitert es auch schon daran, dass Betroffene nicht erkennen, dass sie Hilfe von Psychologen oder Psychiatern bräuchten. Oder sie scheuen den Weg zum Arzt. Wäre eine anonyme App da nicht die Lösung? Wilms wundert nicht, dass schon heute viele Menschen digitale Angebote nutzen: "Die Dunkelziffer ist wegen des Stigmas riesig. Und für Menschen, die ihre Erkrankung geheim halten wollen, ist eine App genau das Richtige." Das Problem: Bei vielen Apps prüft niemand, ob die Nutzer an der Störung leiden, die sie therapieren soll. Niemand untersucht wissenschaftlich, ob sie wirken. Und in einigen Fällen haben Psychotherapeuten nicht einmal bei der Entwicklung mitgearbeitet.

Ein weiterer Haken: Ein fehlendes Bewusstsein für die eigene Erkrankung ist ein typisches Merkmal vieler psychischer Leiden – etwa wenn es um Suchterkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen geht. Um aber eine sinnvolle und erfolgreiche Therapie machen zu können, muss eine Störung vom Facharzt erkannt und richtig diagnostiziert werden. Den Patienten die Selbstdiagnose ergoogeln lassen? Gefährlich.

Selbst wer den ersten Schritt zum Arzt geschafft hat und weiß, woran er erkrankt ist, bekommt oft keinen Therapieplatz. Drei Monate wartet man hierzulande im Schnitt auf einen Termin. Wer eine bestimmte Art der Therapie braucht oder an etwas leidet, was nur ein Spezialist therapieren kann, wartet erheblich länger.

Die Versorgungslücke ist also immens und mit neu ausgebildeten Therapeuten kaum zu schließen. Genau dort kommen Smartphones und Computer, Telefontherapeuten und digitale Therapieprogramme ins Spiel (Association for Psychological Science: Kazdin & Blase, 2011). Bei leichteren Befindlichkeitsstörungen mag das ein Ansatz sein. Aber können Therapien aus dem Netz Menschen helfen, die handfeste, gefährliche psychische Krankheiten haben, wie eine Schizophrenie mit Verfolgungswahn oder eine ausgeprägte Borderline-Störung? Kann ein Algorithmus das intime Verhältnis zwischen Therapeut und Patient ersetzen – oder besteht nicht die Gefahr, dass schwer Erkrankte, etwa suizidgefährdete Menschen, über Monate alleine am Smartphone oder am Rechner an ihrem seelischen Leid herumdoktern und deshalb nicht zum Arzt gehen? 

Eine Grafschaft in England setzt auf die Ferntherapie

Ein Pilotprojekt in England versucht es mit einem Ansatz, der die Arbeit von Therapeuten digital unterstützt. Nicht ein Computerprogramm allein soll hier den Job des Arztes tun: Healthy Minds, ein landesweites Projekt, setzt auf die Therapie aus der Ferne.

Wer zum Beispiel antriebslos ist oder sich vor Angst nicht mehr in die U-Bahn traut, der kann zum Hörer greifen, eine SMS oder eine E-Mail schreiben. "Wir melden uns meist innerhalb von ein bis drei Tagen zurück", sagt der Psychologe John Pimm, der das Projekt in der Grafschaft Buckinghamshire leitet und geholfen hat, es in ganz England aufzubauen. Bevor es eingeführt wurde, suchten allein in Buckinghamshire jedes Jahr 1.000 Menschen psychologische Hilfe. Heute sind es 8.000. Die Ferntherapie verspricht also etwas, was Forscher sich schon lange wünschen: Dass mehr Menschen mit psychischen Problemen sich trauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und diese auch rasch bekommen.

Aus einem der lokalen Zentren rufen geschulte Mitarbeiter die Hilfesuchenden zurück. "Gleich beim ersten Anruf nehmen wir eine ausführliche Risikobewertung vor", sagt Pimm. Hat jemand eine manifeste Depression oder Angststörung und vor allem: Besteht die Gefahr, dass er sich oder anderen etwas antut? Je nachdem, wie schwer die Symptome sind, werden unterschiedliche Therapien angeboten. Viele, die sich melden, durchlaufen nur ein "ow intensity scheme, eine Art abgeschwächte Psychotherapie. Sie bearbeiten entweder ein Computerprogramm oder nehmen an Schulungen teil. Dort lernen sie ihre Erkrankung kennen: Woher kommt eine Depression, wie hängen Gedanken, Gefühle und der Körper zusammen und wie kann ich den Teufelskreis schlechter Gedanken durchbrechen? Sie lernen, dass es wichtig ist, zu wissen, was einem selber gut tut – und wie sie das in den Alltag einbauen können: Sport oder Spaziergänge, Musik hören oder am Fahrrad herumschrauben.

Das Entscheidende: Überwacht wird das von einem Therapeuten. Mit dem sprechen die Patienten per Telefon oder im Chat – einmal die Woche für eine Viertelstunde. Für Fragen sind die Ärzte auch zwischendurch erreichbar. Ein Therapeut kann sich im Rahmen dieser Basisbetreuung im Schnitt um 250 Patienten pro Jahr kümmern – fast viermal so viele wie in einer Praxis, wenn er jeden Patienten wöchentlich im Schnitt eine Stunde sieht. Merken die Therapeuten von Healthy Minds von Anfang an, dass die Ferntherapie angesichts der Art oder Schwere der Erkrankung eines Patienten nicht geeignet ist, wird ihm direkt eine Therapie mit intensiven persönlichen Sitzungen oder ein Klinikaufenthalt vermittelt.