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Borneo Wie Orang-Utan-Babys in einer Auffangstation Hilfe finden

Vier Pfoten Auffangstation, Borneo
Ab ins Grüne: Um die Affen beim Klettern zu ermutigen, wagen sich auch die Pfleger in die Bäume
© VIER PFOTEN | Nanang Sujana
Orang-Utans sind in Gefahr: Auf der südostasiatischen Insel Borneo schrumpft ihr Lebensraum. Noch dazu werden viele von Wilderern oder Bauern getötet, oft vor den Augen ihrer Jungen. Doch es gibt eine Auffangstation, in der die Äffchen Hilfe finden – und fürs Leben lernen

Aufstehen! Die Schule beginnt!

Für Kartini geht es schon früh am Morgen los. Es wird gerade hell, als sie zum Frühstück greift und anfängt, an einer Karotte zu knabbern. Kurz darauf wird sie an die Hand genommen und klettert in einen weißen Jeep – ihren Schulbus. Als alle in den Wagen ein­gestiegen sind, fährt er los. Über Sandpisten schaukelt er in den Regenwald. Dort, zwischen den Bäumen, befindet sich Kartinis Schule, denn: Sie ist ein Orang-Utan-Kind.

Zusammen mit sieben Artgenossen lebt Kartini in einer Auffangstation der Tierschutz­organisation Vier Pfoten im Südosten der Insel Borneo. Die Menschen, die sie morgens in die nahe gelegene Dschungelschule zwischen den Städten Balikpapan und Samarinda bringen, sind Tierpfleger, Lehrer und zugleich Ersatzeltern. Denn alle Orang-Utans hier sind Waisen.

Die deutsche Primatologin Signe Preuschoft leitet die Station seit deren Gründung im April 2017. Zusammen mit insgesamt 19 Tierpflegern, Verhaltens-Experten und Tierärzten kümmert sich die 57-Jährige um das Wohl der Affen und bringt ihnen bei, ein arttypisches Leben zu führen – Hilfe, die auf Borneo dringend nötig ist.

Palmölplantagen auf Borneo
Dicht an dicht: Auf gerodeten Flächen pflanzen Bauern meist Ölpalmen an. Die Plantagen sind riesig, und oft verirren sich Orang-Utans dorthin. Denn viele Felder grenzen wie dieses hier direkt an den Regenwald
© Shutterstock

Allein zwischen den Jahren 1999 und 2016 ist die Zahl der Orang-Utans auf der asiatischen Insel um rund 150.000 geschrumpft.

Forscher haben die Nester der Tiere gezählt und schätzen, dass dort nur noch 50000 bis 100.000 der Affen leben. Eigentlich hangeln sie sich durch die Baumkronen, doch die Menschen zerstören den Regenwald.

Sie fällen Bäume, um deren Holz zu verkaufen, oder legen Feuer, die den Boden kahl fressen. Auf den freien Flächen bauen sie Öl­palmen an, weil sie daraus Palmöl gewinnen und verkaufen können. Dieses wird in Benzin gemischt, in Hautcremes, Schokolade oder Margarine (mehr dazu lest ihr hier).

Wild­tiere wie die Orang-Utans verlieren so Stück für Stück ihr Zuhause. Damit nicht genug: Immer wieder sterben Tiere während der Brandrodungen in den Flammen. Verirren sich die Affen auf die Ölpalmen-Plan­tagen, werden sie oft von Bauern getötet, damit sie keine Ernte klauen. Außerdem gibt es Wil­derer, die die Tiere wegen ihres Fleisches jagen. So kommt es, dass viele Orang-Utan-Kinder ihre Mütter verlieren – auch die etwa 20 Monate alte Kartini.

Vermutlich hat sie tagelang allein auf einem Baum gehockt, bis Menschen sie fanden. Eigentlich leben Orang-Utan-Kinder die ersten zwei Jahre nah bei ihren Müttern, krallen sich an ihnen fest, lassen sich umhertragen und bleiben so warm und sicher. In den Jahren darauf lernen die Kleinen von den Erwachsenen, wie man im Dschungel überlebt. Nun müssen diese Aufgabe Signe Preuschoft und die anderen Tierpfleger übernehmen.

Früchte der Ölpalme
Bis zu 50 Kilogramm wiegen die Fruchtstände einer Ölpalme. Aus ihnen kann man Hunderte pflaumengroße Früchte ernten – und daraus das begehrte Palmöl gewinnen
© Shutterstock

Die Bewohner des Waisenhauses sind zwischen einem und neun Jahre alt

Weil die Affen-Waisen ganz unterschiedliche Probleme haben, ist der Unterricht in der Dschungelschule einzeln auf sie abgestimmt. Auf dem Stundenplan stehen zum Beispiel: Futtersuche, Nestbau, Geschicklichkeitstraining.

Hat ein Affe Angst auf wackeligen Ästen? Dann soll er sich zunächst in einer Hängematte ans Wippen und Schaukeln gewöhnen. Hat einer das Klettern verlernt? Dann schwingt sich ein Pfleger mit ihm in ein Gerüst im Wald. Das Waldstück, auf dem sich die Affen tagsüber austoben – sozusagen ihr Schulhof – ist so groß wie 141 Fuß­ballfelder. Nachts schlafen sie in ihren großen Käfigen in der Auffangstation.

Nicht alle Bewohner gelangten direkt aus dem Dschungel dorthin, so wie Kartini. Es kommt vor, dass Wilderer die Äffchen als Haustiere an Menschen verkaufen. Da ist beispielsweise Gonda, der zwei Monate lang wie ein menschlicher Säugling in einer Familie herum­getragen, gefüttert, gepflegt wurde, bis es seinen Besitzern zu viel Arbeit wurde.

Baumschule, Borneo
Fang mich doch! Die kleinen Affen klettern flink durch die Baumkronen, ganz wie echte "Waldmenschen" – so die Übersetzung des malaiischen "orang utan"
© VIER PFOTEN | Nanang Sujana

Vor einer Weile, erzählt Signe Preuschoft, hatte sie eine Schülerin, die jahrelang bei Menschen gelebt hat – das konnte man deutlich an ihrem Verhalten sehen. Preuschoft war dabei, als das Orang-Utan-Weibchen zufällig ein paar Strümpfe im Wald fand. „Sie fing an, den einen über ihren Fuß zu ziehen, den anderen über ihren Arm“, erzählt sie. „Nach einer Weile hat sie die Strümpfe ausgezogen und fein säuberlich gefaltet, so wie man Wäsche zusammenlegt.“

Was vielleicht lustig aussieht, ist ein großes Problem. Die Affen sollen voneinander affentypisches Verhalten lernen und sich auf die Wildnis vorbereiten, anstatt Menschen nachzuahmen. Besucher sind darum im Waisenhaus verboten. Und viele Pfleger sprechen nicht mit den Tieren, sie versuchen, Affenlaute nachzuahmen – gar nicht so leicht...

Baumschule, Borneo
Die Dschungelschule im Regenwald ist 100 Hektar groß und liegt nahe der Stadt Balikpapan auf der Insel Borneo
© VIER PFOTEN | Nanang Sujana

Auch mit Kartini war es am Anfang schwer. Doch sie ist Signe Preuschoft sofort ans Herz gewachsen. Bis Kartini die Forscherin lieb hatte, dauerte es hingegen. Zunächst vermisste das Affenmädchen seine Mutter und musste sich an die völlig neue Umgebung gewöhnen. Statt in den Baumkronen saß Kartini in einem Käfig.

Für ihre Artgenossen interessierte sich Kartini nicht. Kamen die anderen Affen abends aus der Waldschule zurück und turnten nebenan, hockte sie einfach bloß da. Also versuchte Signe Preuschoft, ihr Vertrauen zu gewinnen, und setzte sich zu ihr. Stunden, Tage. Bis Kartini aufstand und sich an sie kuschelte.

Damals, in Kartinis Käfig, beobachtete Signe Preuschoft etwas Erstaunliches: Auf ihrer Digitalkamera hatte sie Fotos gespeichert, die sie dem Orang-Utan-Mädchen zeigte. Kartini guckte interessiert, wenn sie Bilder anderer Affen entdeckte. Waren Menschen zu sehen, wandte sie sich ab. „Einmal habe ich ihr ein Bild von sich selbst gezeigt“, erzählt Signe Preuschoft, „da hat sie das Display geküsst.“

So kam Signe Preuschoft auf eine Idee: Wenn Kartini sich gern Bilder von Affen anschaute – konnte man nicht eine Lernmethode daraus entwi­ckeln? Die 57-Jährige kontaktierte Af­­fen­forscher in der Schweiz, die Orang-Utans in freier Wildbahn gefilmt haben. Nun will sie Kartini und den anderen diese Videos vorspie- len, damit sie se­hen, was Menschen ihnen nicht vorleben können.

Denn so sehr sich die Tierpfleger auch be­- mühen: Sie können sich nicht so fest in Lianen krallen wie ein Orang-Utan. Sie können keine Affennester bauen, so geschickt Nüsse knacken. Und sie können zwar den Kleinen dabei helfen, erste Kletterversuche zu wagen, aber niemals mit ihnen durch die Baumwipfel schwingen.

In ein paar Jahren wird Kartini allein zurechtkommen, im weiten Dschungel – in der Freiheit. Dorthin hat Signe Preuschoft bereits einige Affenkinder aus einem anderen Projekt entlassen. Als sie die Tiere Monate später dort besuchte, kamen die zwar kurz gucken, schwangen sich aber schnell zurück in die Bäume. Immer höher, immer tiefer ins Dickicht des Waldes. „Sie sind eben dort zu Hause“, sagt Signe Preuschoft, „und für uns ist ein Urwald ein abenteuerlicher Ort, an den wir nicht gehören.“

Geolino Extra Nr. 72 - Affen

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