Im August töteten amerikanische Drohnen eine afghanische Familie. Unscharfe Videos belegen nun, auf welcher unsicheren Grundlage Entscheidungen über Leben und Tod getroffen werden

Was das amerikanische Militär als erfolgreichen Schlag gegen den IS ausgab, stellte sich als versehentlicher Angriff auf Zivilisten heraus.

Pauline Voss
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Zehn Personen kamen beim Drohnenangriff vom 29. August ums Leben.

Zehn Personen kamen beim Drohnenangriff vom 29. August ums Leben.

Saifurahman Safi / Imago

Die Bilder sind grau in grau: Entlang einer Linie bewegt sich ein kleines Rechteck, umgeben von grösseren Rechtecken. Das kleinere Rechteck liegt im Zentrum eines Fadenkreuzes. Es ist das Auto von Zemari Ahmadi. Er parkiert in eines der grösseren Rechtecke ein, einen Hinterhof. Kleine graue Punkte bewegen sich rundherum. Kurz darauf wird das gesamte Bild von gleissendem Weiss ausgefüllt. Zemari und alle kleinen Punkte sind tot.

Das Videomaterial, das die «New York Times» am Mittwoch veröffentlichte, zeigt die Aufnahmen eines Drohnenangriffs in Kabul, der am 29. August des vergangenen Jahres zehn Personen das Leben gekostet hat. Die Zeitung hatte gegen die Streitkräfte auf die Herausgabe der Videos geklagt und bezog sich dabei auf das Öffentlichkeitsprinzip (Freedom of Information Act). Es handelt sich um zwei Videoaufnahmen, insgesamt 25 Minuten Material. Eine der Aufnahmen zeigt den Angriff in Schwarz-Weiss, die andere in Farbe und aus einem leicht veränderten Winkel.

Das von der «New York Times» veröffentlichte Video zeigt den Moment des Angriffs.

Die Zeitung wirft dem Militär nun vor, Entscheidungen über Leben und Tod auf der Grundlage von unscharfen, schwer in Echtzeit zu interpretierenden Bildern zu treffen, die zudem für Fehlinterpretationen anfällig seien.

Die militärische Lage war angespannt

Das Militär wähnte sich an jenem Tag auf der Spur eines Mitglieds der Terrorgruppe IS-Khorasan, eines Ablegers des Islamischen Staats. Man habe durch den Angriff eine unmittelbare Bedrohung beseitigen können, erklärte das Pentagon nach dem Angriff zunächst. Die Lage war nach dem missglückten Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan angespannt: Wenige Tage zuvor hatte ein Selbstmordattentäter des IS inmitten der Evakuierungsmission am Flughafen von Kabul mindestens 170 Afghanen getötet. Auch dreizehn amerikanische Soldaten waren dabei umgekommen.

Der Hinterhof des Hilfswerks im September 2021.

Der Hinterhof des Hilfswerks im September 2021.

Saifurahman Safi / Imago

Bereits im September jedoch zeichneten die «New York Times» und die «Washington Post» ein anderes Bild des Angriffs: Sie deckten auf, dass keineswegs Terroristen, sondern Zivilisten getötet worden waren. Bei den Gebäuden, die das Militär für einen Unterschlupf der Terroristen hielt, handelte es sich in Wirklichkeit um eine Filiale der kalifornischen Organisation Nutrition and Education International. Ahmadi, der Fahrer des Autos, arbeitete als Elektroingenieur und langjähriger Mitarbeiter des amerikanischen Hilfswerks. Mit ihm wurden neun seiner Familienmitglieder getötet.

Unter den getöteten Zivilisten waren sieben Kinder. Sie seien, schreibt die «New York Times» nun, auf den Videoaufnahmen der Drohnen nur schwer als solche zu identifizieren gewesen – denn die Aufnahmen zeigen die Personen aus der Vogelperspektive, ein Grössenunterschied ist kaum auszumachen.

Ada Ahmadi, 7, steht mit ihren Cousins und Cousinen am Grab ihres Verwandten Farzad, 12, der Opfer eines Drohnenangriffs der USA wurde.

Ada Ahmadi, 7, steht mit ihren Cousins und Cousinen am Grab ihres Verwandten Farzad, 12, der Opfer eines Drohnenangriffs der USA wurde.

Zohra Bensemra / Reuters

Belege des US-Militärs waren zweifelhaft

Die Videos bestätigen, dass nach der unmittelbaren Explosion durch den Drohnenangriff eine zweite Feuerwalze durch den Hinterhof rauschte. Das Militär hatte diese «sekundäre Explosion» als Beleg dafür genannt, dass sich Sprengstoff im Wagen befunden habe. Die «Washington Post» hatte jedoch bereits im September nahegelegt, dass als Ursache eher detonierende Benzindämpfe infrage kämen.

Im Dezember billigte der amerikanische Aussenminister Lloyd Austin einen Bericht, in dem die Armeeführung dafür plädierte, auf eine Bestrafung der verantwortlichen Soldaten zu verzichten. Weder Nachlässigkeit und Fehlverhalten noch schlechte Führung seien ursächlich für den Angriff gewesen, sondern Kommunikationspannen und Fehler bei der Ausführung. Zuvor hatte das Pentagon den Angriff als «tragischen Fehler» bezeichnet.

Ein zweites Video zeigt die Szenerie aus einem anderen Winkel und in Farbe.

Der Einsatz von Drohnen in militärischen Auseinandersetzungen ist grundsätzlich umstritten. Kritiker monieren, dass bei dieser Art der Kriegsführung besonders leicht Zivilisten umkommen könnten, weil die genaue Identität der Personen mithilfe der Drohnen nicht immer hinreichend festgestellt werden könne. In diesem Fall handelte es sich um Drohnen des Typs General Atomics MQ-9 Reaper. Im November hatte ein Sprecher des Pentagons zugegeben, dass die Drohnenaufnahmen die Anwesenheit von mindestens einem Kind belegten, das sich zwei Minuten vor der Explosion in der Nähe befunden habe. Dies sei jedoch erst im Nachhinein entdeckt worden, mit dem «Luxus der Zeit».

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