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Brückenbau »Ein gewisses Gottvertrauen«

Es bröselt, rostet und reißt - viele Brücken in Deutschland sind vorzeitig verschlissen. Die Fehler entstanden im Bauboom nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Spannbetonbauer wußten zuwenig über die Tücken dieser eleganten Bauweise, sie bauten zu schnell und nicht selten schlampig.
aus DER SPIEGEL 34/1995

Knapp 34 000 Brücken überspannen Deutschlands Flüsse und Täler, Gleisanlagen, Feldwege und Kanäle. Sie sind nach Ansicht des Bundesverkehrsministeriums (BMV) die »empfindlichsten und kostspieligsten Bestandteile« des 622 600 Kilometer langen Netzes von Land-, Kreis-, Bundesstraßen und Autobahnen.

Rund 400 Millionen Mark werden in diesem Jahr für die Erhaltung der Brückenbauwerke aufgewendet. Doch reicht diese Summe? Fachleute bezweifeln es. In den zuständigen Ministerien und Bauverwaltungen ist die Rede vom »erkrankten Verkehrskörper«, vom »Patienten Brücke« und von »Zeitbomben aus Stahl und Beton«. Dem Straßenverkehr drohe, wenn schadhafte Brücken gesperrt werden müssen, der Kollaps, in dessen Folge Deutschlands Autofahrer »lernen müssen, mit dem Stau zu leben«. Die Volkswirtschaft tue gut daran, sich auf »schwerwiegende Behinderungen« einzustellen.

Zwar sei keine Brücke in Deutschland »derzeit eine Todesfalle«, sagt Albert Treitwein, Professor für Stahlbeton und Spannbeton an der Münchner Fachhochschule. »Tatsache« sei jedoch, daß es »sehr, sehr viele malade Brücken« gebe.

Andere Experten äußern sich noch widersprüchlicher. »Akut ist wohl keine Brücke vom Einsturz bedroht«, versichert Johannes Vielhaber, Ingenieur der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) in Berlin. »Andererseits«, so Vielhaber, »auszuschließen ist es auch nicht.«

Welche Gefahren und Kosten mit dem plötzlichen Einbruch von Brücken und vergleichbaren Betonbauwerken verbunden sind, machen vergangene Beispiele deutlich: *___1976 mußte die damals erst 18 Jahre alte ____Autobahnbrücke am Heerdter Dreieck durch Hilfstützen ____vor dem »Beinahe-Einsturz« bewahrt werden. *___1979 wurde die erst 20 Jahre alte ____Stadtautobahnbrücke im Berliner Stadtteil Schmargendorf ____(Länge: 300 Meter, Baukosten: 6 Millionen Mark) ____abgerissen und durch einen 71 Millionen Mark teuren ____Neubau ersetzt. *___1980 krachte das Spannbetondach der Berliner ____Kongreßhalle (Baujahr 1957) zusammen und erschlug einen ____Rundfunk-Reporter. »Eine größere Anzahl« der ____Stahltrossen, die das flügelhaft gespannte Betondach in ____der Schwebe hielten, war gerissen - so die Analyse der ____Unfallforscher. *___1988 brach schon beim Bau einer Autobahnbrücke über ____den Main bei Aschaffenburg ein 24 Meter langes ____Teilstück ab, ein Mann kam dabei ums Leben. *___1990 sackte die Inntal-Autobahnbrücke bei Kufstein ____ein, die Reparatur dauerte zwei Jahre und kostete knapp ____50 Millionen Mark.

Die Vergangenheit, so scheint es, beginnt Deutschlands Brückenbauer einzuholen: Was mittlerweile an vielen Stellen bröselt, rostet und wegbricht, wurde meist in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik errichtet.

Mehr als 10 000 Brücken sind seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland gebaut worden, die meisten von ihnen nach einem Verfahren, das die deutschen Brückenbauer ohne viel Erfahrung gleichsam direkt aus der Erfinderwerkstatt übernommen hatten: die Technik des Spannbetonbaus.

Entwickelt wurde diese Bauweise von dem französischen Ingenieur Eugene Freyssinet. Er baute seine ersten Spannbetonbrücken in Deutschland, 1938 über die Autobahn bei Oelde und 1942 über die Glatzer Neiße im heutigen Polen. Beide Brücken zeigen bis heute, sagt der Brückenbauer Philipp Schreck aus dem Münchner Vorort Neubiberg, »keine Alterserscheinungen, der Beton ist fest, ohne Risse und die Vorspannung intakt«.

Freyssinet hatte in die Brückenträger unter den Fahrbahnen Hüllrohre verlegt, in denen Stahlseile verlaufen. Sie wurden nach dem Erhärten des Betons gespannt und gegen diesen verankert, wobei sich die Zugkräfte der Seile auf den Beton übertrugen. Um die Vorspannung zu festigen, wurde zudem Zementmörtel in die Hüllrohre gepreßt (siehe Grafik Seite 143).

Die Spannbetonbauweise bot eine Reihe von Vorteilen, von denen sich aus heutiger Sicht die Nachkriegsbaumeister offenbar blenden ließen. Gegenüber herkömmlichen Stahlkonstruktionen waren die Brücken aus Spannbeton um etwa 40 Prozent billiger. Und im Vergleich zu den klobigen Stahlbetonbrücken, deren Fahrbahnbeton mit Drahtmatten gefestigt wurde (Fachjargon: »schlaffe Bewehrung"), erlaubte die neue Technik ästhetisch schöne Brückenschläge großer Spannweiten.

Kühn und elegant nahmen sich fortan die Konstruktionen auf den Reißbrettern der Brückenarchitekten aus. Doch bei der baulichen Umsetzung der Entwürfe war »häufig ein gewisses Gottvertrauen unumgänglich«, sagt der Münchner Betonbauprofessor Treitwein.

Freyssinet war bei seinen Brücken umsichtig auf strenge Sicherheit bedacht gewesen. Seine Bauten beruhten auf dem Prinzip der sogenannten Einfeldträgerbrücke: Die Länge der einzelnen Fahrbahnabschnitte, die am Boden vorgefertigt und vorgespannt und dann in die Tragkonstruktion verlegt wurden, bemaß sich nach dem jeweiligen Abstand der Brückenpfeiler. Diese Methode sicherte eine rißfreie Herstellung der Fertigteile, die danach zumeist auch frei von Rissen blieben. Auf jeweils zwei Pfeilern ruhend, konnte sich jedes Teil unter den »Lastfällen« (Ingenieur-Jargon) Temperatur, Wind und Verkehr innerhalb des zulässigen Spielraums frei verformen.

Bei der Anwendung des Spannbetons schritten die deutschen Brückenbauer forsch voran. Trotz »erheblicher Wissenslücken« (Vielhaber) und ohne ausreichende Kenntnis der »chemisch-physikalischen Grundlagen« (Treitwein), die dem neuen Verfahren anhafteten, schlugen die Nachkriegsbaumeister frohgemut Hunderte von Brücken, meist nach dem Motto: »Baun 'mer mal, dann schaun 'mer mal.«

Besonders eifrig war der Stuttgarter Massivbauprofessor Fritz Leonhardt. Er entwickelte die Technik der »Hohlkasten-Durchlaufträgerbrücken im Taktschiebeverfahren«. Bei dieser Methode wird der Brückenträger samt Fahrbahn, ähnlich einer Lasagne-Schlange aus der Pasta-Maschine, abschnittweise um etwa 30 Meter verlängert und mit hydraulischen Pressen über die Stützpfeiler der Brücke vorgeschoben.

Als ein Problem dieser Bauten gilt inzwischen, daß der unter der Fahrbahn verlaufende Brückenträger vergleichsweise groß bemessen ist - Risse im Beton ließen sich dadurch nicht vermeiden. Sie entstanden einerseits durch unsachgemäße Vorspannung, andererseits durch die Temperaturunterschiede zwischen der Ober- und Unterseite des Brückenträgers, die durch die Abbindewärme des Betons und durch die Sonnenbestrahlung hervorgerufen wurden. Darüber hinaus taten sich Risse in den vorgespannten Durchlaufträgern beidseits der Stellen auf, wo diese auf den Pfeilern auflagen.

Ein Riß im Brückenbeton aber, macht Brückenbauer Schreck unter Hinweis auf die Erfahrungen im Flugzeugbau geltend, ist »der Anfang vom Ende - er leitet den Dauerbruch ein«.

Durch die Betonritzen, die sich durch das Temperaturgefälle und die Verkehrsbelastung beständig öffnen und zusammenziehen, dringt Wasser ein, mal als Regen, mal als mit Chemikalien versetztes Tauwasser. Die Feuchtigkeit kriecht in den Betonkörper und führt allmählich zur Korrosion der Bewehrung.

Das Nagewerk des Rostes zeigte sich beispielhaft bei der Reparatur der von »Brückenpapst« Leonhardt konzipierten Inntal-Autobahnbrücke: Alle Spannstähle waren durchgerostet.

Daß es um andere Talbrücken des Bundesautobahnnetzes möglicherweise nicht besser bestellt ist, zeigte sich schon Anfang der achtziger Jahre. Im Rahmen einer »Risikostudie« hatten die Bonner Ministerien für Verkehr und für Forschung (BMFT) eine Reihe von Talbrücken untersuchen lassen.

Die Studie, deren Veröffentlichung über einen Vorabdruck zum Dienstgebrauch nicht hinauskam, gelangte zu dem Ergebnis, daß alle 55 inspizierten »Durchlaufträgerbrücken im Hohlkastenquerschnitt« durchschnittlich alle zwölf Meter Risse aufwiesen. Gerissen waren zudem sämtliche Koppel- und Arbeitsfugen der Brückenträger.

Die gemessenen Rißbreiten hätten, so Schreck, eigentlich eine »sofortige Sperrung dieser Brücken« erforderlich gemacht. Doch die Bauherren und die Erbauer steuerten trotzig dagegen. »Ohne Risse geht es nicht«, befand etwa Baumeister Leonhardt und erklärte »solche Risse« für »unschädlich«.

Hilflos bis naßforsch äußerten sich Mitglieder des Normenausschusses Bauwesen zu der Forderung, Spannbetonbrücken müßten rissefrei gebaut werden. Die Einlassungen reichten, wie der Münchner Wirtschaftswissenschaftler und Buchautor Armin Witt schreibt, von der Aussage »Wir können doch die Erkenntnisse der Physik nicht in die Vorschriften aufnehmen« bis hin zu der verblüffenden Feststellung: »Wenn wir die Temperaturlastfälle in die Vorschriften aufnehmen, können wir keine Atomreaktordruckbehälter mehr aus Spannbeton bauen.«

Entsprechend dem schlechten Zustand, in dem sich ungezählte Brückenbauwerke befinden, ist der Finanzbedarf für Reparaturen hoch. Allerdings klafft zwischen den veranschlagten Mitteln, die für die Erhaltung der »Brücken und anderer Ingenieurbauwerke der Bundesfernstraßen« erforderlich wären, und den tatsächlich dafür aufgewendeten Beträgen seit Anfang der achtziger Jahre eine Lücke von durchschnittlich 40 Prozent.

Zur Erhaltung der 1000 kommunalen Brücken in Hamburg hatte die Baubehörde der Hansestadt für das laufende Jahr rund 43 Millionen Mark angesetzt. Bewilligt wurden aber nur 23 Millionen. »Der Fehlbetrag«, sagt Vielhaber von der BAM, »wird nach vorne rausgeschoben. Den müssen unsere Kinder bezahlen.« Das Aufwand-Schubverfahren wird schon seit vielen Jahren angewendet. In Hamburg summiert sich der Fehlbetrag zwischen Soll und Ist mittlerweile auf 180 Millionen Mark.

Einigkeit herrscht unterdes bei den Kritikern der hemmungslosen Betongläubigkeit, daß die »wissenschaftliche Bauforschung in Deutschland stark unterbelichtet ist«, so Hartmut Pohl, im BMFT bis Ende letzten Jahres für Sicherheitsfragen im Brückenbau zuständig. Licht in dieses Dunkelfeld wollen nun Ingenieure der Bundesanstalt für Materialforschung mit einem Versuch bringen, der in den nächsten Wochen anlaufen soll.

In der großen BAM-Prüfhalle in Berlin steht eine 18 Meter lange und 35 Tonnen schwere Fußgängerbrücke. Sie war vom Auftraggeber, der Deutschen Bahn, nicht akzeptiert worden, weil im Brückenträger haarfeine bis millimeterbreite Risse klafften.

Um die Auswirkung dieser Schäden zu erforschen, soll die Brücke vergleichbaren Belastungen ausgesetzt werden wie am vorgesehenen Standort. Den »Lastfall Sonnenbestrahlung«, beschreibt BAM-Prüfer Vielhaber die Versuchsanordnung, »simulieren wir mit der Einhausung eines Brückenabschnitts": Auf die Betondecke wird auf einer Fläche von zehn Quadratmetern ein unten offener Holzkasten gesetzt. Eingeblasene Heißluft erwärmt die Oberfläche auf rund 60 Grad, eine Temperatur, wie sie im Hochsommer auf Fahrbahnabdeckungen entsteht.

In einem zweiten Versuchsabschnitt wird dann der »Lastfall Verkehr« nachgestellt. Zwei servohydraulische Prüfzylinder senken sich auf die Betondecke und belasten die Brücke mit einem Gewicht von je zehn Tonnen. Die wechselnden Lastfälle von Wärme, Kälte und Druck werden von Instrumenten erfaßt, die an den Rissen befestigt sind.

Mit diesem Versuch soll, so Vielhaber, geklärt werden, ob Schrecks Begriff vom »Dauerbruchvorgang, der sich durch Risse ankündigt« und der aus der Flugzeugtechnik bekannt ist, auch im Bauwesen greift.

Darüber, daß Risse die Lebensdauer eines Bauwerks verkürzen, besteht unter den Experten, soweit sie von der deutschen Beton-Lobby unabhängig sind, kein Zweifel mehr.

»Selbstverständlich« seien Brücken »ohne Risse zu bauen«, hatte auch das Frankfurter Oberlandesgericht in einer Mängelklage gegen eine Brückenbaufirma befunden und festgestellt, die Risse im Beton der Blasbachtalbrücke hätten »die auf 60 Jahre angesetzte Lebensdauer der Brücke auf 2 bis 5 Jahre verringert«.

Für die Ewigkeit hatten die Baumeister des Römischen Reiches die Brücken ihres 80 000 Kilometer langen Straßennetzes konzipiert. Die ehrwürdigen Bauwerke wankten nicht einmal, als im Zweiten Weltkrieg ganze Panzerregimenter über sie hinwegrasselten.

Von solchen zeitlichen Dimensionen sind die deutschen Nachkriegsbauten offenbar weit entfernt. Immerhin: Eine Lebenszeit von 100 Jahren müßten, so der Bonner Regierungsdirektor Pohl, auch moderne Brückenkonstruktionen erreichen. Wenn aber, wie es nun vielerorts geschieht, »Brücken abgerissen werden müssen, weil sie den physikalischen Anforderungen nicht genügen«, so ist das nach Pohls Auffassung »eine ausgemachte Schlamperei«.

Deren Ausmaß ist aktenkundig. Aus einer BMV-Dokumentation über »Schäden an Brücken und anderen Ingenieurbauwerken« geht hervor, daß »50 Prozent aller festgestellten Schäden während der Bauausführung entstanden sind«. Y

[Grafiktext]

Spannbetonbrücke im Taktschiebeverfahren

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