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Foto: [M]: Frank Rumpenhorst / dpa; M. Nass / Brauer Photos; Jörg Schüler / IMAGO; Getty Images (2)

Sex, Lügen, Machtmissbrauch Die Springer-Affäre

Der Fall Reichelt und ein Konzern im Skandalsumpf: Jüngste Enthüllungen zeigen, dass das Digitalunternehmen kulturell in den Sechzigerjahren stecken geblieben ist. Einer der meistgelesenen Artikel des Jahres.
aus DER SPIEGEL 43/2021

Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender und Sonnenkönig des Springer-Universums, betritt Besprechungszimmer nicht, er rauscht herein wie eine Erscheinung. Im Schlepptau gern zehn, elf Untergebene, eine Entourage würdig eines Popstars. Wird gesprochen, schreibt einer mit, die Zweite springt auf bloße Handzeichen, der Dritte telefoniert die Worte des Chefs mit Anweisungen weiter. Es wirke, sagt einer, der öfter in solchen Runden dabei war, wie eine Szene aus einem Hollywoodfilm: der Auftritt eines Medienmoguls, wie ihn sich Drehbuchschreiber vorstellen.

Inszenierung gehört dazu im Hause Springer. Da wird schon mal eigens ein Preis erfunden, um Facebook-Chef Mark Zuckerberg in die Firmenzentrale zu locken, damit sich der Verlagschef neben ihm präsentieren kann. Viele Jahre hat Springer reihenweise digitale Start-ups gekauft, von Immobilienportalen bis Jobbörsen, um sich vom gestrigen Zeitungsverlag zum modernen Digitalkonzern zu wandeln. Das war gut fürs Geschäft und noch besser fürs Image: Onlineavantgarde statt Krawall­boulevard.

Aus: DER SPIEGEL 43/2021

»Bild«-Ausfall

»Bild« sieht sich gern als Deutschlands Leitmedium. Nun wurde Chefredakteur Julian Reichelt wegen sexueller Beziehungen mit Mitarbeiterinnen geschasst. Die Affäre wirft ein Licht auf die rückständige Unternehmenskultur und bringt Springer-Chef Mathias Döpfner in Not.

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Mehr Zeit hat Döpfner, ein hagerer Zwei-Meter-Mann, allenfalls damit verbracht, sich als feinsinniger Intellektueller zu präsentieren, der kluge Essays schreibt über Freiheit und Demokratie und auch mal ein langes Interview mit einer feministischen Malerin führt.

Diese glitzernde Fassade, so mühsam aufgebaut, hat nun schwere Risse bekommen. Zum Vorschein kommt dabei ein Konzern, der nicht von digitalen Zukunftsvisionen geprägt ist, sondern immer noch von der »Bild« und einem zügellosen Boys Club, der feststeckt im chauvinistischen Muff der Sechzigerjahre.

Diese Woche wurde der Chefredakteur der »Bild«-Zeitung gefeuert. Die Liste der Vorwürfe gegen Julian Reichelt ist lang: Machtmissbrauch, Vermischung beruflicher und privater Beziehungen zu Mitarbeiterinnen, Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen. Hinweise auf all das gab es schon vor einem halben Jahr in einem internen Untersuchungsverfahren. Bleiben durfte Reichelt trotzdem. Bis nun durch Axel Springer bekannt wurde, dass der »Bild«-Chef auch weiterhin Sex mit einer ihm unterstellten Mitarbeiterin hatte, dass er log. Reichelt schreckte offenbar selbst vor der Fälschung einer Urkunde nicht zurück.

Verlagsmanager Döpfner: Haderer und Hardliner, Disco und Dax – der Springer-Chef liebt es, widersprüchlich zu erscheinen

Verlagsmanager Döpfner: Haderer und Hardliner, Disco und Dax – der Springer-Chef liebt es, widersprüchlich zu erscheinen

Foto: Peter Rigaud

Die Causa Reichelt ist hässlich und abgründig und damit, wie nun mancher Springer-Manager zynisch feststellt, eben ein Abbild der hauseigenen Medienmarke. Im Boulevard gehe es nun mal dreckig zu. Aber so einfach lässt sich dieser Fall nicht abtun.

Denn das Problem Reichelt ist auch ein Problem Döpfner. Spätestens seit bekannt wurde, was der Vorstandsvorsitzende von Springer von Julian Reichelt hält – und was er sonst so denkt über die Dinge im Land: »Er ist halt wirklich der letzte und einzige Journalist in Deutschland, der noch mutig gegen den neuen DDR Obrigkeits Staat aufbegehrt«. Die meisten anderen Journalisten: Propaganda-Assistenten der Bundesregierung, insbesondere im Hinblick auf die Coronapolitik. Dies schrieb Döpfner an den Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre in einer WhatsApp-Nachricht, die nun öffentlich wurde.

Es ist eine erschreckende Aussage in vielerlei Hinsicht, verachtend im Ton und verzerrt in der Wahrnehmung, vor allem aber ist sie kein Ausrutscher.

Was genau treiben die bei Springer? Haben die noch nie von #MeToo gehört?

Dahinter steht eine weitgehende politische Verbundenheit von Döpfner und Reichelt: Beide verstehen »Bild« als das letzte Bollwerk gegen einen vermeintlich anrollenden Sozialismus, sie eint die Verachtung für eine angeblich linke Elite in Medien und Politik, der die Verbindung zum Volk verloren ging.

Der Schöngeist und das Biest, eine unheilige Allianz, die dazu führte, dass der einflussreichste Verleger des Landes eine schmierige Unternehmenskultur stützte und schützte. Was genau treiben die da bei Springer? Haben die noch nie von #MeToo gehört? Selbst jetzt, nach Reichelts Abgang, verweigert Döpfner jedes Wort der Entschuldigung, fabuliert stattdessen noch immer von Reichelts Verdiensten, klagt über mächtige Hintermänner, die den Sturz orchestriert hätten.

Damit zeigt sich immer deutlicher: Die Affäre Reichelt, sie ist tatsächlich eine Affäre Springer. Nicht nur weil Döpfner seinem Schützling Reichelt trotz mannigfaltiger Beschwerden lange so ziemlich alles durchgehen ließ. Der Springer-Chef, so erzählen es viele, die ihn gut kennen, habe sich in den vergangenen Jahren auch selbst politisch radikalisiert. Sein obsessiver Freiheitsglaube sei umgeschlagen in eine Art Staatsfeindlichkeit, die allzu konsequentes Regierungshandeln als Bevormundung und Gängelung der Bürger deute. Wer das nicht genauso sehe, gelte in seinen Augen als Marionette oder Propagandist. Die Coronapandemie hat seinen Hang zu solchen Dystopien offenbar zur Manie werden lassen.

Bis heute prägt die Figur Axel Cäsar Springer den Medienkonzern. Das Privatleben des stramm konservativen Gründungsverlegers hätte reichlich Stoff für die eigenen Boulevardblätter geboten: Tief religiös vertraute er lange auf eine persönliche Astrologin und entwickelte zeitweise Wahnvorstellungen, in denen er sich für den wiedergeborenen Jesus hielt. Von seiner ersten Frau, nach den Nürnberger Rassegesetzen der Nazis eine Halbjüdin, ließ er sich 1938 scheiden. Seine späteren Ehefrauen Rosemarie und Helga spannte er beide seinem Hamburger Nachbarn Alsen aus. Nummer fünf wurde Friede Riewerts, Kinderfrau seines jüngsten Sohnes.

Rund um »Bild«, zeitweise auflagenstärkstes Boulevardblatt Europas, hat Springer eine Meinungsmacht gebaut, die den deutschen Pressemarkt publizistisch dominierte: nicht nur gemessen an der Auflage, sondern auch beim Agendasetting.

Sein Einfluss verleitete den Verleger mitunter, selbst Politik machen zu wollen: 1958 flog er nach Moskau, um dem damaligen Kremlherrn Nikita Chruschtschow die Wiedervereinigung abzuringen – und scheiterte schmachvoll. Das Thema verfolgten er und seine Blätter danach umso intensiver. Seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verordnete Springer unumstößliche publizistische Leitlinien – wie die Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen sowie die Unterstützung der Lebensrechte des israelischen Volkes. Auf diese 1967 selbst formulierten »Essentials« verpflichten sich Mitarbeiter bis heute.

Über die Jahrzehnte entwickelte »Bild« einen so großen Einfluss auf das politische und gesellschaftliche Klima des Landes, dass sich an der Haltung zu ihr noch immer der politische Standpunkt ablesen lässt. Heinrich Böll arbeitete sich an Springer genauso ab wie Max Goldt, der »Bild« zum »Organ der Niedertracht« deklarierte.

Im vergangenen Jahrzehnt hat »Bild« stark an Einfluss verloren, publizistisch wie wirtschaftlich. Die Auflage fiel von 3,1 Millionen im Jahr 2010 auf gut eine Million heute, das digitale Geschäft kann die Erosion nicht wettmachen. Den Schwund an Reichweite versuchen die Blattmacher seither erkennbar durch Lautstärke auszugleichen. Besonders laut wurde es 2017 mit dem Antritt von Julian Reichelt als neuem Vorsitzenden der Chefredaktion: Der damals gerade 36-Jährige war an der Axel Springer Akademie ausgebildet worden und aufgefallen als knalliger Front-Reporter in Afghanistan, im Irak und im Sudan.

Freunde Reichelt, Paul Ronzheimer: In scheinbarer Nibelungentreue verbunden

Freunde Reichelt, Paul Ronzheimer: In scheinbarer Nibelungentreue verbunden

Foto: Nikita Teryoshin

Reichelt trieb dem Boulevardblatt jede Ironie aus und ließ auf seinen Seiten den Kalten Krieg wiederaufleben. Er machte Doppelseiten gegen Putin, schrieb einen wütenden Brief an den chinesischen Präsidenten und gab sich mit gleich mehreren Artikeln große Mühe, den Virologen Christian Drosten zu demontieren. »Grob falsch« sei dessen Studie über die Corona-Infektiosität von Kindern gewesen. Später erhielt das Blatt dafür eine Rüge vom Presserat.

Was Springer sich da für einen Mann an die Spitze setzte, konnte niemanden überraschen, schon als »Bild«-Volontär fiel er auf durch ungewöhnliches Machtstreben und Arroganz. Nach wenigen Tagen in der »Bild«-Redaktion begann er sich zu kleiden wie der damalige Chefredakteur Kai Diekmann.

Und genauso wussten in seiner Redaktion später viele, wie interessiert Reichelt an jungen Kolleginnen war; er schien ja selbst kaum einen Hehl daraus zu machen. Die Affären des »Bild«-Chefs wurden gehandelt wie ein offenes Geheimnis.

Dass einige der Frauen, mit denen er zeitweilig sein Privatleben teilte, beruflich von ihm abhängig waren, störte Reichelt offenbar kaum, jedenfalls nicht genug, um sonderlich klandestin vorzugehen. An eine ihm unterstellte Berufsanfängerin schickte der Chefredakteur Nachrichten, meist nachts, manchmal auch aus der Konferenz: »Noch wach?« oder »Ich will deinen Körper spüren«.

Die Affären reichen weit zurück, bis ins Jahr 2014. Doch erst in diesem Frühjahr hatte eine »Bild«-Führungskraft den Mumm, sich an den Vorstand des Verlages zu wenden und zu beklagen, wie der Boss Bett und Beruf verquicke. Springer schaltete die Compliance-Abteilung ein, die wiederum die Wirtschaftskanzlei Freshfields mit der Aufklärung betraute.

Die Wahrheitsfindung der Kanzlei gestaltete sich schwierig. Das Gros der Frauen, so heißt es, habe sich gegenüber der Kanzlei nur anonym äußern wollen, zu groß war ihre Angst vor Konsequenzen. Reichelt, so scheint es, hat in der Redaktion eine Kultur der Angst geschaffen, die es schwer machte, die Fälle aufzuklären. Ihm half die Rückendeckung von ganz oben und die unbedingte Loyalität seines engeren Zirkels, der bis zuletzt für ihn kämpfte. Gegen die Feinde da draußen.

Reichelt hat das Fre­und-Feind-Denken auf die Spitze getrieben

Wer das Springer-Gebäude in Berlin durch die Sicherheitsschleuse im Foyer passiere, betrete eine geistige Wagenburg, sagt einer, der dazugehörte. Das schuf ein seltsames Loyalitätsverständnis: Man hält zusammen, schwächt die eigenen Reihen nicht. Und so wurde über die Affären des Chefs mit Volontärinnen, Praktikantinnen oder Jungredakteurinnen zwar viel getuschelt, aber wenig unternommen. Stattdessen sei es vorgekommen, dass neue Volontärinnen, bevor sie den Konferenzraum betraten, angekündigt wurden mit: »Vorsicht, das ist eine von Julian.« In der Redaktion hatte das weitreichende Konsequenzen. Selbst weibliche Führungskräfte vermieden es mitunter, mit jungen Mitarbeiterinnen zu sprechen, die sie als Reichelts Zuträgerinnen wähnten.

Reichelt hat das Freund-Feind-Denken auf die Spitze getrieben. Um sich herum scharte er eine Handvoll Männer, die ihm in scheinbarer Nibelungentreue verbunden sind – und teils von seinen Eskapaden wussten. Welche Loyalität Reichelt geschaffen hat, ließ sich zuletzt auf Twitter besichtigen, wo sich seine Jünger aufführten wie die Sturmtruppen eines gefallenen Imperators. »Drecksblatt«, schrieb etwa Reporter Julian Röpcke über den SPIEGEL – und tat dabei gerade so, als sei Reichelt nicht etwa über seine Verfehlungen gestolpert, sondern zu Unrecht gestürzt worden. Reichelt selbst sei erschüttert über das Bild, das in den Medien von ihm gezeichnet werde, heißt es in seinem Umfeld. Er empfinde die Berichterstattung über seinen Fall als »Vernichtungsfeldzug« gegen ihn.

In einem Statement zu Reichelts Rückkehr nach dem Ende des Compliance-Verfahrens im März hatte Springer noch suggeriert: alles halb so wild. Es habe »keine Anhaltspunkte für sexuelle Belästigung oder Nötigung« gegeben. Die in der Untersuchung festgestellten »Fehler in der Amts- und Personalführung – die nicht strafrechtlicher Natur sind«, hätten es nicht gerechtfertigt, ihn als Chefredakteur abzuberufen. Reichelt selbst bestritt die Vorwürfe stets.

Verleger Springer 1970: Das Privatleben bot Stoff für die eigenen Boulevardblätter

Verleger Springer 1970: Das Privatleben bot Stoff für die eigenen Boulevardblätter

Foto: Sven Simon / ullstein bild

Anfang dieser Woche verwiesen Anwälte Reichelts und des Verlags auf Anfrage noch darauf, die Vorwürfe seien unwahr, weder von gravierendem Gewicht noch strafrechtlich relevant, sie seien allesamt durch externe Dritte geprüft, das Compliance-Verfahren nach wenigen Wochen eingestellt worden, weil sich keine Belege für ein strafbares Verhalten gefunden hätten; Reichelt sei keine öffentliche Person, sodass Beziehungen aus seinem Privatleben nicht von öffentlichem Interesse seien.

Dass es keine Anhaltspunkte für einen Machtmissbrauch gab, wie Springer damals sagte, ließ sich nach eingehender Recherche indes ohnehin nicht mehr halten. Ein SPIEGEL-Team sprach in den vergangenen Monaten mit einem halben Dutzend Frauen, die im Zuge des Compliance-Verfahrens befragt worden waren, sowie mit Vertrauten dieser Frauen, sichtete Hunderte Nachrichten auf Handys, Messengerdiensten und E-Mails und wertete Dokumente aus, um die Schilderungen zu überprüfen.

Von Springer hieß es im März, man habe Reichelt mit vielen Vorwürfen nicht konfrontieren können, weil sie nur anonym geäußert wurden. Daran hatte der Verlag allerdings wohl auch selbst Schuld: Viele Betroffene fürchteten von Anfang an, Details ihrer Aussagen könnten Reichelt zu Ohren kommen und dieser anschließend Rache nehmen. Die Sorge war nicht unbegründet.

Eine Frau wurde von einem Mitglied der Chefredaktion über Dritte gewarnt. Sie solle besser nichts sagen, wenn die Anwälte sich bei ihr meldeten, erklärte der Mann. Ein mutmaßlicher Einschüchterungsversuch, der innerhalb der Compliance-Abteilung bekannt wurde und auch den Vorstand erreichte. In der Zentrale in Berlin war man empört und kündigte eine Untersuchung an. Die sei mittlerweile abgeschlossen, heißt es bei Springer – für den Mann blieb sie ohne Konsequenzen. Man hätte ihm keine Intention nachweisen können, die Betroffene einschüchtern zu wollen. Eine Argumentation, die sich mit der von Reichelts Anwalt deckt. Der erklärte in Schriftsätzen: Mit einem solchen Anruf, wenn es ihn überhaupt gegeben habe, habe der Mann die Betroffene womöglich nur vor »Traumatisierungen« schützen wollen.

Eine der Frauen, die gegen Reichelt aussagten, ist Constanze Müller (Name geändert). Im März wurde sie von der Wirtschaftskanzlei Freshfields, die Springer mit der Aufklärung beauftragt hatte, zu den Vorwürfen befragt. Ob Reichelt Jobs davon abhängig mache, dass man mit ihm schlafe, wollte die Untersuchungsleiterin wissen, so steht es in einem Protokoll des Gesprächs, das dem SPIEGEL über Dritte zukam. Die Frau antwortete demnach: Dafür sei sie ja wohl das beste Beispiel.

Auch Müller war von Reichelt mit Komplimenten gelockt worden, 2016 war das, sie war Volontärin, er Digitalchef von »Bild«. Er lobte ihre Intelligenz, ihr Aussehen, ihre Arbeit, schließlich verfingen die Schmeicheleien, sie schliefen miteinander. Wie zahlreiche andere Frauen hielt Müller Reichelt für vertrauenswürdig und charmant, verknallte sich. Das geht aus dem Protokoll hervor.

Dass das Verhältnis für ihn pro­blematisch werden könnte, soll Reichelt bewusst gewesen sein: Er habe sie damals aufgefordert, gab Müller bei Freshfields an, ihren kompletten Nachrichtenverlauf zu löschen – wenn jemand rauskriege, was zwischen ihnen laufe, hätten sie »ganz großen Ärger«. Doch Nachrichten, die das sexuelle Verhältnis belegen, existierten durchaus noch. Müller selbst will sich auf Anfrage nicht äußern.

2018 übernahm Müller eine prestigeträchtige Aufgabe bei »Bild«, offenbar auf Reichelts Wunsch. Ihrer Aussage zufolge hatte sie Zweifel, ob sie das überhaupt könne, zumal sie noch als Volontärin arbeitete. Reichelt soll auch die Warnung von Müllers direkten Vorgesetzten und von Kollegen ausgeschlagen haben, die ihr die Aufgabe ebenfalls nicht zutrauten. »Das ist ein Wahnsinn gewesen, sie war noch gar nicht so weit«, sagt eine ehemalige Mitarbeiterin.

Laut den Unterlagen traf Reichelt Müller mehrfach in Hotels zum Sex, meistens in der Nähe des Springer-Gebäudes. In einem Fall, weil er in Nachrichten darauf gedrungen habe, sie ihn nicht habe verärgern wollen und sich beruflich von ihm abhängig fühlte.

Müller litt unter der Situation. Der Druck des Jobs sei enorm gewesen und sie mit ihren Kräften am Ende. Hinter ihrem Rücken sei getuschelt worden, dass sie nur wegen ihrer Beziehung zum Chef an die Position gekommen sei, sie habe sich gemobbt gefühlt. Schließlich sei Müller zur psychiatrischen Behandlung in eine Klinik gegangen und für mehrere Wochen krankgeschrieben worden. Ehemalige »Bild«-Leute sagen, sie hätten über Monate beobachtet, wie schlecht es der Frau ging, wie sie immer häufiger krank wurde. Den Klinikaufenthalt bestätigen sie.

Hilfe bekam die Frau nicht. Im Gegenteil. Um zu verhindern, dass die »New York Times« und Zeitungen des Ippen-Verlags Details des Falls vergangene Woche veröffentlichten, schickten die Springer-Rechtsabteilung und eine Kanzlei im Vorwege Drohschreiben an ihren Anwalt: Sie müssten dafür sorgen, dass die Berichte nicht mit Aussagen aus dem Protokoll erscheinen. Man behalte sich andernfalls rechtliche Schritte vor. In einem Schreiben an Christian Schertz, den Anwalt der Frau, unterstellte Springer-Chefjustiziar Konrad Wartenberg, Schertz oder seine Mandantin hätten ein schriftliches Protokoll ihrer Aussage vor dem Compliance-Ausschuss durchgestochen. Zwecks »Schadensbegrenzung« müssten sie dieses sofort zurückziehen.

Der Anwalt wies die Vorwürfe umgehend zurück. Er forderte Springer auf, von der Unterstellung Abstand zu nehmen, und drohte andernfalls mit rechtlichen Schritten gegen den Verlag. Die von Springer zusätzlich beauftragte Hamburger Kanzlei KNPZ erhöhte den Druck indes noch. Es handele sich um einen Verstoß gegen das Geschäftsgeheimnisgesetz, schrieb der KNPZ-Anwalt. Das sei womöglich sogar strafbar. Man müsse unter Umständen prüfen, ob die Frau oder Schertz haftbar zu machen wären. Schertz erwiderte, dass es geradezu »widersinnig« wäre, wenn er oder seine Mandantin das Protokoll weitergegeben hätten. Es sei aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen noch nicht mal gegenüber den Compliance-Anwälten von Springer freigegeben worden.

Auf Nachfrage des SPIEGEL bestätigte Springer, den Anwalt der Betroffenen kontaktiert zu haben. Man habe ihm mitgeteilt, dass »alle anderen Beteiligten am Compliance-Verfahren« Vertraulichkeit bewahrt hätten. Die Drohung mit strafrechtlichen Schritten begründete der Verlag mit seiner »Fürsorgepflicht« – um »die Integrität des Compliance-Verfahrens und die Rechte aller daran beteiligten Personen« zu schützen.

Schertz wollte sich auf Nachfrage nicht äußern.

Betroffene werden bei Springer ganz offenkundig als Gefährder eingestuft, als potenzielle Whistle­blower.

Zwei Tage nach dem Rauswurf Reichelts veröffentlichte Döpfner eine knapp sieben Minuten lange Videobotschaft auf YouTube. Es ist ein verstörender Selfie-Clip. Was zunächst nach Schadensbegrenzung aussieht, dreht sich schnell zu einem Frontalangriff auf alle vermeintlichen Gegner des Hauses.

Er müsse gleich nach Washington fliegen, sagt er, vorher wolle er sich noch mal an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wenden. Doch statt sich zu entschuldigen, wenigstens bei den Betroffenen, spricht er erneut von Hintermännern, »die erkennbar das Vorgehen organisierten«, die Reichelt wegbekommen wollten, »dabei wurde ein sehr drohender, teilweise fast erpresserischer Ton angeschlagen«. Auch eine ehemalige Partnerin habe eine wichtige Rolle gespielt, raunte der Vorstandsvorsitzende.

Das klang genau so, wie es vermutlich gemeint war: Da hat sich eine frustrierte Ex-Freundin rächen wollen. Der Springer-Chef behauptete, die Frau sei nie bei Axel Springer beschäftigt gewesen. Das stimmt zwar formal, dennoch hatte sie während der gesamten dreijährigen Beziehung mit Reichelt sehr wohl als Selbstständige für Springer gearbeitet. Im Frühjahr baten Vorstand Jan Bayer und der Leiter der Compliance-Abteilung sie deshalb zu einem Gespräch, um über ein mögliches Fehlverhalten von Reichelt zu sprechen.

Zum Compliance-Problem für Springer drohte die Beziehung durch eine »Handelsblatt«-Anfrage zu werden. Bereits im April 2018 wollte die Zeitung über die mögliche Vermischung geschäftlicher und privater Interessen berichten. Doch Reichelt bat damals den verantwortlichen Redakteur, auf den Bericht zu verzichten, um seine Ehe zu retten. Das zeigt eine WhatsApp-Nachricht aus der »Handelsblatt«-Redaktion. Auch beim damaligen Chefredakteur rief Reichelt an. Dieser entschied, den Artikel nicht zu veröffentlichen.

Dem SPIEGEL gegenüber erklärte Reichelt im Frühjahr 2021, »Bild« habe der Firma bereits Aufträge erteilt, bevor er deren Mitarbeiterin im Rahmen dieser Zusammenarbeit überhaupt erst kennengelernt habe. Eine Aussage, die nicht zutrifft – schon weil es das Unternehmen zuvor nicht gab.

Als die Springer-Leute die Frau Mitte Februar dieses Jahres zum Hintergrundgespräch trafen, habe man ihr, weil sie Angst vor Reichelt hatte, zugesichert, ihre Aussagen würden vertraulich behandelt, bestätigt ihr Anwalt. Von Freshfields wurde sie nie befragt, in dem von der Kanzlei geführten Compliance-Verfahren spielte sie daher auch keine Rolle.

Doch nur wenige Tage nach dem vertraulichen Gespräch soll sich ein erkennbar gut informierter Julian Reichelt bei einer ihrer Vertrauten gemeldet haben. Er wisse, dass es den Fall der Frau gegen ihn gebe, soll er gesagt haben. Aber keine Sorge: Er werde sich nicht an ihr rächen und würde der Familie nie etwas tun. Ihr Anwalt meldete den Anruf dem Compliance-Verantwortlichen.

Reichelt äußert sich auf Anfrage nicht dazu, sein Anwalt schrieb, die Vorgänge seien »privater Natur«.

Welches Verhältnis hatte Deutschlands mächtigster Chefredakteur zur Wahrheit? »Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht«, warb »Bild« vor ein paar Jahren. In einem Werbetrailer für Bild-TV sagt Reichelt: »Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.« Er selbst hatte offenbar einiges zu verbergen.

Reichelt soll mehreren Frauen erzählt haben, er lebe getrennt von seiner Ehefrau, trug auch seinen Ehering im Unternehmen nicht. Einer Frau, die Zweifel an seiner Version hatte, legte er eine gefälschte Scheidungsurkunde des Amtsgerichts Berlin-Tempelhof vor, datiert auf 2017. Eine SPIEGEL-Anfrage beim zuständigen Gericht ergab, dass das Dokument offensichtlich nicht echt ist. Scheidungen werden in Berlin bereits seit 2009 per Beschluss, nicht per Urteil besiegelt. Die Geschäftsnummer entspreche nicht der laufenden Nummerierung für Familiensachen. Tatsächlich lebte Reichelt zu dem Zeitpunkt, als er der Frau die vermeintliche Urkunde präsentierte, noch mit seiner Ehefrau zusammen und hatte offenbar mindestens eine weitere Affäre. Reichelts Anwalt teilte auf Anfrage pauschal mit, es handle sich um private Angelegenheiten, über die nicht berichtet werden dürfe.

In der »Bild«-Redaktion wussten manche von Reichelts Scheidungsfake. Im Frühjahr 2021 wurde auch ein Vorstandsmitglied über die Angelegenheit informiert. Interesse, der Sache auf den Grund zu gehen, zeigte die Springer-Führung offenbar nicht. Springer wollte dazu nichts sagen. Dass der wichtigste Journalist des Hauses offenbar keine Skrupel hat, ein Dokument zu fälschen, schien für den Verlag kein Problem.

»Bams«-Chefin Würzbach: In Führungsteams zieht die Frau meist den Kürzeren

»Bams«-Chefin Würzbach: In Führungsteams zieht die Frau meist den Kürzeren

Foto: Urban Zintel

All das deutet auf eine Unternehmenskultur hin, die in krassem Widerspruch zu dem steht, was der Konzern und sein Vorstandschef in PR-Videos so von sich geben. Der von Döpfner so nachdrücklich inszenierte Anspruch, eine besonders saubere und fortschrittliche Firmenkultur zu pflegen – aus Sicht der betroffenen Frauen ein schlechter Witz.

Nun haben Affären mit Untergebenen und Missbrauchsvorwürfe auch bei Springer eine lange Tradition. Schon Axel Springer selbst pflegte einen fleißigen Damentausch, so beschreibt es Michael Jürgs in seiner Biografie des Verlegers: »Manchmal bat er zum Vögeln wie zum Diktat. Die Wohnungen, in denen sich der Verleger mit seinen jeweiligen Geliebten traf, waren in verschiedenen Städten verteilt, allein in Hamburg waren es drei.« Ein Hamburger Juwelier hatte fertige Päckchen mit Schmuck im Tresor, zu verschicken an die jeweiligen Frauen, gemeinsam mit einem vorgedruckten Brief, dass es aufregend gewesen sei.

Dem langjährigen »Bild«-Chefredakteur und -Herausgeber Kai Diekmann wurde von einer Mitarbeiterin vorgeworfen, sie im Sommer 2016 vergewaltigt zu haben. Bei einer »Bild«-Party in Diekmanns Villa am Jungfernsee sei man nachts gemeinsam schwimmen gegangen. Diekmann dementierte die Vorwürfe hart. Die Springer-Mitarbeiterin hatte sich zunächst an das Unternehmen gewandt, das den Fall mithilfe externer Rechtsexperten untersuchen ließ, aber kein strafbares Verhalten feststellen konnte. Springer leitete den Fall mit Diekmanns Einverständnis an die zuständige Staatsanwaltschaft in Potsdam weiter. De facto ließ sich nichts belegen, das Ermittlungsverfahren wurde 2017 eingestellt.

Bemerkenswert war allerdings schon damals, wie Reichelt, zu der Zeit noch Chef von Bild.de, versuchte, die Frau zu diskreditieren. Er beauftragte Kollegen, ein Dossier über sie zusammenzustellen, um ihren Ruf zu erschüttern.

Ein anderer Fall ist der des vormaligen Leiters des US-Geschäfts und CEO von Springers Beteiligungsarm für die Digitalgeschäfte. Als dieser im März 2018 nach mehr als zwei Jahrzehnten bei Springer aufhörte, ließ das Unternehmen das zunächst aussehen wie einen normalen Jobwechsel. Wie das »manager magazin« in den Tagen danach herausfand, war sein Abgang die Folge einer Untersuchung der Personalabteilung. Ehemalige Kolleginnen hatten sich laut den Recherchen über den Springer-Mann beschwert.

Auch Döpfner sammelt nackte Frauen, bei ihm hängen sie an der Wand

Warum Döpfner bei dem US-Manager hart durchgriff, bei Reichelt jedoch maximale Toleranz gelten ließ, lässt sich nur erahnen. Jedenfalls vermittelten die vergangenen Tage den Eindruck, dass der Springer-Chef nicht wirklich gegen seinen wichtigsten Journalisten ermitteln oder ihn gar entlassen wollte. Im Hause Springer sind die wildesten Spekulationen im Umlauf, was Reichelt gegen Döpfner womöglich in der Hand haben könnte, welche Geheimnisse die beiden teilen, welche Chatprotokolle noch in den Smartphones verborgen sind.

Fest steht: Reichelt und Döpfner wähnten sich bis zuletzt im selben Schützengraben. Als Kämpfer gegen eine vermeintlich verkommene politische Kultur, einen angeblich drohenden Linksruck. Einig, dass China eine hart zu bekämpfende Gefahr sei. Dass zu viele Flüchtlinge ins Land kommen.

Als im Oktober 2019 ein Rechtsextremist in Halle versuchte, die Synagoge zu stürmen und möglichst viele Juden zu ermorden, nahm Döpfner das zum Anlass für einen erstaunlichen Exkurs über die »Hauptursachen für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit«.

In einem langen Essay in der »Welt« lamentierte er zunächst über »eine rechtsstaatlich sehr zweifelhafte Flüchtlingspolitik, die kaum unterscheidet zwischen Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen«, über schlecht ausgestattete Polizei und überforderte Justiz. Schließlich erregt er sich über »eine politische Elite, die die Realitäten verdrängt oder ihnen entrückt ist«. Sätze, die im besten Fall nach Stammtischgefasel klingen, aber auch auf jedem AfD-Parteitag Applaus ernten würden.

Woher rührt diese Radikalisierung in Döpfners Denken? Oder ist sie gar nicht neu, war nur gut verdeckt? Wer Döpfner kennt, weiß, dass er schon immer das Extravagante pflegte und eine Tendenz zum Extremen hatte.

Auch Döpfner sammelt nackte Frauen, bei ihm hängen sie an der Wand, eine Kollektion von 350 Aktkunstwerken, von 8000 Jahre alten Artefakten bis hin zu zeitgenössischen Werken. Rund 45 davon zeigte er vor zwei Jahren öffentlich, im Privatmuseum Villa Schöningen an der Glienicker Brücke in Potsdam, das ihm mitgehört.

Döpfner wuchs mit Kunst auf. Sein Vater, Professor für Architektur, nahm ihn früh mit zur Documenta, wo er ihm die Honigpumpe von Joseph Beuys zeigte. Döpfners Mutter räumte zweimal im Jahr die Wohnung leer, um Werke von Künstlern auszustellen, die sie mochte. Sein erstes Bild bekam er von ihr geschenkt, eine Arbeit des Malers Johannes Grützke, dem Mitbegründer und bekanntesten Vertreter der sogenannten Schule der Neuen Prächtigkeit.

Döpfner kann ausführlich und elaboriert über Kunst sprechen. Vor einigen Monaten tat er das im Podcast des Berliner Galeristen Johann König. Den Umgang mit dem weiblichen Körper sehe er als »Freiheits-Indikator« einer Gesellschaft, sagte er und versicherte: Mit Erotik habe seine Sammlung »gar nichts zu tun«. Bei 99 Prozent der Bilder, die er besitze, habe er »keinerlei erotisches Gefühl«. Wenn sich viele darüber aufregten, fange es ihm »richtig an, Spaß zu machen«. Es ist der gleiche Ansatz, mit dem sein bisheriger Schützling Reichelt »Bild« gemacht hat.

Die Lust am Tabubruch reizt Döpfner auch sonst. Bei der Springer-Weihnachtsfeier 2018 – Motto: »Studio 54« – trat er als Dragqueen verkleidet auf. Im Lauf des Abends gab der Vorstandsvorsitzende Autogramme, »from Matze with Love«.

Döpfner liebt es, widersprüchlich zu erscheinen. Als »Mischung aus Schöngeist und Teppichverkäufer« bezeichnete er sich einmal. Er ist Haderer und Hardliner, Disco und Dax. So andächtig der promovierte Musikwissenschaftler bei den Bayreuther Wagner-Festspielen in der ersten Reihe sitzt, so ausgelassen kann man ihn nachts im Berliner Szeneklubs erleben, als Vorstandschef zwischen verschwitzt tanzenden Twens.

So zu sein, aber auch ganz anders – diese Attitüde hilft ihm dabei, sich als Freigeist in Szene zu setzen und anderen Schubladendenken vorzuwerfen.

Bevor Döpfner Vorstand und CEO von Springer wurde, war er in den Neunzigerjahren dreimal Chefredakteur, für jeweils zwei Jahre und mit überschaubarem Erfolg: Nachdem er die schwächelnde Berliner »Wochenpost« nicht in den Griff bekommen hatte, heuerte er bei der »Hamburger Morgenpost« an und wechselte dann 1998 zur »Welt«. Der Spottbegriff »Döpfner-Kurve« wurde zum Synonym für fallende Auflagen. Sein Weg führte ihn trotzdem in den Springer-Vorstand, zuständig für »Elektronische Medien«. Als er den Vorsitz des Gremiums übernahm, war er erst 38, weshalb die Presse ihn zunächst nicht ernst nahm. Er selbst kokettiert gern damit, sein Aufstieg an die Konzernspitze sei ein »Betriebsunfall der Wirtschaftsgeschichte« gewesen.

Döpfner versteht es zu beeindrucken, mit prächtigen Festen, die er in seiner Potsdamer Villa gibt, oder Partys im barocken Prinzessinnenpalais, gelegen an Berlins Pracht­adresse Unter den Linden, das er 2015 erwarb. Die Gästeliste reicht von Filmproduzent Nico Hofmann bis zu CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak.

Der wohl größte Glücksfall in der Karriere Mathias Döpfners ist die Verlegerwitwe Friede Springer. Ihrem unverbrüchlichen Vertrauen in ihn hat er fast alles zu verdanken – obwohl er seit 2020 nicht mehr wirklich auf sie angewiesen ist. Damals er­klärte Friede Springer ihn zum Erben des Verlags, verkaufte ihm Anteile für eine Viertelmilliarde Euro und schenkte ihm später weitere Anteile im Wert von etwa einer Milliarde. Sie ist die Patentante seines zweiten Kindes, für das sie wie eine Großmutter gewesen sein soll.

Verlegerwitwe Springer: Der wohl größte Glücksfall in der Karriere Mathias Döpfners

Verlegerwitwe Springer: Der wohl größte Glücksfall in der Karriere Mathias Döpfners

Foto: Dominik Butzmann

Der Fall Reichelt hat die beiden allerdings zuletzt voneinander entfremdet. Was die Verlegerin von dem »Bild«-Chef hielt, ist im Haus ein offenes Geheimnis. Stolz erzähle sie, dass sie aus dem Fahrstuhl aussteige, wenn Reichelt drin sei, wird kolportiert. Als »Bild« auf dem Höhepunkt der Pandemie eine Kampagne gegen den Virologen Christian Drosten initiierte, soll sich Friede Springer im Vorstand lauthals über Reichelts aggressiven Journalismus beschwert haben. Der Verlag verkaufte den Vorgang in einem öffentlichen Statement als Ausweis »lebendiger« Diskussionskultur im Haus. Dass Reichelt auf die Meinung Friede Springers wenig gab, soll Döpfner Bewunderung abgenötigt haben, heißt es.

Zwischenzeitlich soll das Verhältnis mal erkaltet sein. Als sich Döpfner vor einigen Jahren von seiner Frau trennte und mit der Firmenerbin und Kunstsammlerin Julia Stoschek zusammenkam, mit der er inzwischen ein Kind hat, nahm die Verlegerin den Ziehsohn mit auf Kreuzfahrt und redete ihm ins Gewissen. Döpfner habe die Reise als ziemlichen Horrortrip empfunden, erzählen Eingeweihte.

Dass Döpfner nun seit fast 20 Jahren auf dem Chefposten von Springer sitzt, hat er allerdings nicht allein Friede Springer zu verdanken. Er hat das Verlagshaus erst hart saniert, dann radikal umgebaut und danach so konsequent digitalisiert wie kein anderer deutscher Branchenkollege. Er prägte ­­­­– anfangs – einen neuen, offenen Stil und war bemüht, das noch von Axel Springer geprägte höfische System des Konzerns aufzubrechen.

Die Regionalzeitungen, die vom Patriarchen persönlich aufgebaute Kernsubstanz, wurden genauso versilbert wie die »Hörzu«. Das Geld investierte er in digitale Wachstumshoffnungen. Besonders kreativ ging er dabei nicht vor, auch mit riskanten Neugründungen hielt er sich eher zurück. Springer investierte vor allem in bestehende Digitalvarianten der alten Zeitungskleinanzeigengeschäfte, also Job- und Immobilienportale wie Stepstone, Immowelt, SeLoger oder den Preisvergleichsdienst Idealo.

Parallel versuchte Döpfner, journalistische Portale zu erwerben, mit denen sich digital stabile Erlöse erzielen lassen. So übernahm er 2015 das Wirtschaftsportal Business Insider, am vergangenen Mittwoch verkündete er inmitten der Turbulenzen den Vollzug der Übernahme des Politikdienstes Politico – mit rund einer Milliarde Dollar der größte Zukauf der Firmengeschichte. Döpfners Versuch, 2015 die renommierte »Financial Times« zu schlucken, scheiterte nur knapp und in letzter Minute.

Die New Yorker Finanzinvestoren von Kohlberg Kravis Roberts & Co (KKR) hat der studierte Musikwissenschaftler mit seiner Strategie überzeugt. 2019 übernahmen sie gemeinsam mit einem Partner rund 45 Prozent und machten aus dem deutschen Medienhaus einen halben US-Konzern. In einem aktuellen Interview mit dem »manager magazin« erklären zwei KKR-Manager Springer zum »Juwel« und beteuern, Mathias »voll und ganz« zu vertrauen. Üblicherweise halten Investoren wie KKR Beteiligungen nur einige Jahre, das heißt, sie setzen auf schnelles Wachstum.

Döpfner kommt das zupass, er würde gern in der Liga der großen Digitalanbieter mitspielen und beweisen, dass auch eine Traditionsfirma Transformation kann.

Umso erstaunlicher ist, wie die Boulevardmarke »Bild« nach wie vor die Kultur von Springer dominiert. Und es damit offenbar inzwischen den anderen Geschäftsbereichen schwer macht, Spitzenkräfte einzustellen. Zwischenzeitlich wurde die Rekrutierung für Topjobs bereits heruntergefahren, so geht aus internen Nachrichten hervor: »Es macht einfach keinen Sinn, die Angesprochenen lachen uns aus.« Die Personalexperten fürchten sogar, dass es für Mitarbeiter »ein dicker Minuspunkt« im Lebenslauf sein könnte, für Springer zu arbeiten. »Kein Talent wird mehr gern zu uns kommen«, heißt es in der Nachricht.

Nach seiner Kurzzeitabberufung im Frühjahr infolge des Complianceverfahrens hat Reichelt noch einmal alles gegeben. Selbst seine ärgsten Kritiker bescheinigen ihm eine unglaubliche Energie als Blattmacher. Nach der Pandemie wurde vor allem der Bundestagswahlkampf zu Reichelt-Festspielen umfunktioniert.

Am 29. August, dem Abend des ersten Kanzler-Triells, besuchte CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn die »Bild«-Redaktion, einer von denen, die mit »Bild« und Reichelt ziemlich eng sind. Im Chef-Büro im 16. Stock schaute man die Debatte bei Bier und Pizza, und es soll mancher Witz über die Performance von Armin Laschet gerissen worden sein. Zu späterer Stunde, berichten mehrere Redaktionsmitglieder übereinstimmend, hätte Reichelt dafür gesorgt, dass die Stoßrichtung des Triell-Berichts noch einmal geändert wurde und deutlich kritischer gegenüber dem CDU-Kanzlerkandidaten ausfiel. »Debatten-Debakel«, brüllte die Schlagzeile nun.

Ähnlich laut kommt seit seinem Start im August 2021 auch Bild TV daher. Der hauseigene neue Fernsehsender, der mit viel Tamtam und Investitionen loslegte, sollte unter Reichelt die Rettung für die Marke bringen. Denn die Auflagenverluste der gedruckten Ausgabe haben der einstigen Gewinnmaschine des Konzerns arg zugesetzt. Rund eine Viertelmilliarde Euro soll die »Bild«-Gruppe zu ihren besten Zeiten verdient haben, davon ist nicht mehr viel übrig.

Laut einer internen Berechnung droht »Bild« ab 2023 in die Verlustzone zu rutschen, wenn sich Auflage und Werbeeinnahmen weiter so entwickeln wie in den vergangenen Jahren. Das Problem ist nur: Die Quoten von Bild TV sind viel zu gering. In der werberelevanten Zielgruppe kommt die Quote im täglichen Senderschnitt gerade mal auf 0,1 bis 0,2 Prozent. Um zu ausreichenden Werbeeinnahmen zu kommen, braucht man im Fernsehgeschäft mindestens 0,5 Prozent. Während Bild TV mit seinen Nachrichtenformaten morgens mit anderen Spartensendern noch einigermaßen mithalten kann, rauschen die Zahlen vor allem abends ab, teils nur knapp oberhalb der Wahrnehmungsgrenze.

Das Dilemma: Die TV-Sendungen verstopfen die Website inzwischen so massiv, dass darunter die Reichweite von Bild.de leidet. Und die ist für die Marke derzeit der letzte Anker.

Für ihre Stabilität muss seit vergangener Woche ein neuer Chefredakteur sorgen. In einer Hauruckaktion hat Döpfner Johannes Boie, 37, zuletzt Chefredakteur der »Welt am Sonntag« an der Spitze der »Bild« installiert. Auf den ersten Blick wirkt er wie ein Anti-Reichelt. Einer, der sanft auftritt, empathisch. Der nicht mit dem Säbel rasselt, sondern bei seinem Amtsantritt in der »Bild«-Redaktion den Leuten sagte, er wolle auch von ihnen lernen – das hatten sie hier seit Jahren nicht mehr gehört.

Boie ist kein reines Springer-Gewächs, er fing an bei der »Süddeutschen Zeitung«, verfasste dort feinsinnige Essays über die Folgen der Digitalisierung. Das änderte sich schnell, als er zur »Welt«-Gruppe kam. In Kommentaren wettert er nun gegen die Linke, die »rechtsidentisch mit der SED ist«, und schrieb Fans der Grünenpolitikerin Annalena Baerbock nieder. Boie ist anpassungsfähig, das wird bei Springer goutiert, und er versteht was vom Geschäft.

»Bild«-Chef Boie: Rasende Karriere

»Bild«-Chef Boie: Rasende Karriere

Foto: Bjoern-Arne Eisermann

Trotzdem erwartet kaum jemand im Haus, dass mit Boie nun ein echter kultureller Wandel beginnt. Er ist ein Ziehsohn von Döpfner, leitete eine Weile dessen Büro und verdankt ihm seine rasende Karriere. Döpfners ständiger Fingerzeig auf vermeintliche Hintermänner und dubiose, draußen im Dunkeln lauernde Feinde verhindere zudem, dass drinnen, im eigenen Laden, aufgeräumt wird: »Wie soll sich etwas ändern, wenn der Oberste das alles als große Verschwörung inszeniert?«, sagt eine Springer-Führungskraft. Dass ausgerechnet Boie sich Döpfner in den Weg stellt, ist nicht zu erwarten.

Zumal seine Berufung in bester »Bild«-Tradition steht. Mann-Frau-Führungsteams enden in der Redaktion gern so, dass die Frau den Kürzeren zieht. So erlebte es vor einigen Jahren Tanit Koch, die nach ihrer Demission in der »FAZ« die mangelnde Unterstützung durch Döpfner beklagte. Und nun auch Alexandra Würzbach.

Sie wurde Reichelt im Frühjahr als Co-Chefredakteurin und Aufpasserin an die Seite gestellt. Seit Beginn dieser Woche ist sie wieder ausschließlich für die »Bild am Sonntag« zuständig, Boie ist ihr vorgesetzt.

Der versprochene Kulturwandel bei »Bild« fällt also erst mal aus.

Anmerkung der Redaktion: Wir haben den Artikel um eine Stellungnahme von Axel Springer bezüglich der mutmaßlichen Einschüchterung einer Betroffenen ergänzt. Auf Nachfrage des SPIEGEL bestätigte Springer demnach, den Anwalt der Betroffenen kontaktiert zu haben. Die Drohung mit strafrechtlichen Schritten begründete der Verlag mit seiner »Fürsorgepflicht« – um »die Integrität des Compliance-Verfahrens und die Rechte aller daran beteiligten Personen« zu schützen.

Eine Person wurde zudem im Text nachträglich anonymisiert.

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