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Sedat Gürbüzs Mutter Emiş und Ferhat Unvars Bruder Mirza: »Wieso ist das Grab von meinem Sohn kein Ehrengrab?«

Sedat Gürbüzs Mutter Emiş und Ferhat Unvars Bruder Mirza: »Wieso ist das Grab von meinem Sohn kein Ehrengrab?«

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Milos Djuric / DER SPIEGEL

Überlebende des Attentats berichten über ihre Entfremdung von Deutschland Die Hanau-Protokolle

Am 19. Februar 2020 ermordete ein Rechtsextremer neun junge Menschen in Hanau. Weil der Täter sich selbst erschoss, wird es keinen Prozess geben. Der SPIEGEL sprach mit Angehörigen der Opfer.

aus DER SPIEGEL 7/2021

Filip Goman: Serpil, keiner versteht, was wir hier machen.

Serpil Unvar: Ja. Nicht einmal unsere Leute zu Hause verstehen uns.

Filip Goman: Warum sind wir jeden Tag hier?

Filip Goman zeigt auf die weiße Wand gegenüber, auf das Bild seiner Tochter Mercedes, auf Serpil Unvars Sohn Ferhat, auf die sieben anderen jungen Menschen, die er vor dem 19. Februar 2020 nicht kannte. In diesem Raum hängen sie auf Fotos nebeneinander, eingeschweißt in Plastik, umrahmt von einem grauen Vorhang:

Der Raum, das sind 140 Quadratmeter Ladenfläche in der Krämerstraße in Hanau, früher ein Erotikshop, heute prangt #saytheirnames am Eingang über dem Schaufenster in blauer Leuchtschrift.

In diesem Raum treffen sich jeden Tag Menschen, die sich zuvor nicht kannten, obwohl die meisten von ihnen Jahrzehnte im selben Viertel gelebt haben. Zusammengebracht hat sie der Mann, den sie hier »Tobias« nennen, »den Hund« oder »den Bastard«. Der Rassist, der ihr Nachbar war und in der Nacht vom 19. Februar 2020 ihre Kinder erschoss, an sechs verschiedenen Tatorten, innerhalb von wenigen Minuten. Der danach in sein Elternhaus zurückkehrte, erst seine Mutter erschoss, dann sich selbst.

Podcast Cover
Aus: DER SPIEGEL 7/2021

Tödlicher Hass

Frauenfeindlichkeit im Internet nimmt zu. In offene und geschlossenen Foren fantasieren Männer davon, Frauen zu quälen, zu demütigen und zu vergewaltigen. Immer öfter überträgt sich die Gewalt in die Realität. Mörder und Terroristen töten, weil sie Frauen hassen. In einer SPIEGEL-Umfrage fordern Bundestagsabgeordnete schärfere Gesetze und berichten, wie Hass und Hetze gegen sie selbst dramatisch zugenommen hat.

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Weil er tot ist, wird es keinen Prozess geben. Die Fragen, die ein Prozess hätte beantworten können, gibt es trotzdem.

Die Menschen hier sind keine Ermittler, keine Anwälte, keine Richter. Sie waren Busfahrer, Schreiner, Teppichhändler, sie sind Eltern, Geschwister, Freunde. Sie sind Augenzeugen, Nachbarn, Überlebende.

Gemeinsam suchen sie nach Antworten, die ihnen auch ein Jahr nach einem der größten rechtsextremen Anschläge der deutschen Nachkriegsgeschichte keiner gibt.

Nicht die Polizei Südosthessen, nicht die Staatsanwaltschaft Hanau, nicht der Generalbundesanwalt in Karlsruhe. Nicht die Bundeskanzlerin, nicht der Bundespräsident, nicht der Ministerpräsident, schon gar nicht ihr hessischer Innenminister.

Weil sie sich von den Verantwortlichen im Stich gelassen fühlen, führen sie ihren eigenen Prozess, in der Krämerstraße in Hanau. Sie sitzen auf rosafarbenen Samtsesseln, im Hintergrund brüht Mevlana Tee auf dem Samowar, das kochende Wasser ist das Grundrauschen der »Initiative 19. Februar«. Eine Ladenfläche, die linke Aktivisten wenige Wochen nach dem Anschlag für sie anmieteten, ohne genau zu wissen, wofür. Hier versuchen sie seitdem gemeinsam jene Tat zu verstehen, bei der ein rechtsextremer Terrorist in einer Nacht so viele Menschen tötete wie der NSU in sechs Jahren.

Der Täter tötete in drei Bars, am ­Straßenrand, im Kiosk und auf ­einem Discounter-Parkplatz

Der Täter tötete in drei Bars, am ­Straßenrand, im Kiosk und auf ­einem Discounter-Parkplatz

Foto: Boris Roessler / dpa
Angehörigen-Treff in der Krämerstraße in Hanau

Angehörigen-Treff in der Krämerstraße in Hanau

Foto: Milos Djuric / DER SPIEGEL

Hier fragen sie sich gemeinsam, warum Notrufe in der Tatnacht nicht angenommen wurden, warum der Notausgang an einem der Tatorte versperrt war. Warum wurden ihre Kinder obduziert ohne ihre Einwilligung? Sie verstehen nicht, warum ein psychisch Kranker in Deutschland eine Waffe besitzen durfte. Fragen sich, ob es Mitwisser gab. Hätte sie verhindert werden können, diese Tat, deren Aufklärung der Generalbundesanwalt übernahm, weil sie »geeignet war, die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden«? Eingestuft als Attentat, das dem internationalen Ruf der Bundesrepublik schaden könnte, weil wieder Menschen angegriffen wurden, die ihre Wurzeln im Ausland hatten.

In den Raum, in dem sie Antworten auf diese Fragen suchen, laden sie Augenzeugen ein, rekonstruieren die Tatnacht, prüfen die Notrufprotokolle der Polizei. Sie sichten die Ermittlungsakte, analysieren das psychiatrische Gutachten über den Täter, lesen die polizeilichen Auswertungen seines Computers, identifizieren neue Zeugen, werten die Obduktionsberichte ihrer Kinder aus.

† Nesar Hashemi, 21

Bruder Etris, 24

Mutter Najiba, 45

Schwester Saida, 25

Vater Mir Salam, 57

Der SPIEGEL begleitete die Familien von Hanau monatelang. Diese Geschichte zeichnet in Auszügen ihre Dialoge nach, die sie tagtäglich miteinander führen, und lässt sie mit ihren eigenen Stimmen erzählen, was sie erlebt haben. Es ist ein Protokoll ihrer Wut, ihrer Verzweiflung, ihrer Trauer – es ist das Protokoll einer Entfremdung von einem Land, das sie vor dem 19. Februar 2020 ihre Heimat nannten.

Tatnacht

Kim Schröder: Paar Minuten vorher haben Ferhat und Mercedes noch zu mir gesagt, du bekommst einen Jungen. Ich war schwanger und wollte immer saure Schlangen essen. Ich bin kurz vor die Tür vom Kiosk, bin zurück und habe gesagt, da schießt einer. Ach, Kinder mit Böllern, hat Ferhat gesagt. Dann ist der Hurensohn schon reingekommen.

Die Tat begann um 21.55 Uhr, der Täter tötete an sechs Tatorten, in drei Bars, am Straßenrand, auf einem Discounter-Parkplatz und in einem Kiosk.

Man kann den Abend minutiös nachzeichnen, aber wenn man in dem Raum in der Krämerstraße sitzt, schiebt sich in den Erzählungen ein Bild vor das andere, ein Albtraum ohne Reihenfolge.

Kim Schröder: Ich habe mich hinter dem Tresen versteckt. Als er in der Arena Bar nebenan angefangen hat zu schießen, bin ich aus dem Ladenfenster gesprungen, habe drei Autos angehalten, habe gesagt, da ist ein Amokläufer, meine Freunde verbluten, ich bin schwanger, die sind alle einfach weitergefahren.

Auf den Videoaufzeichnungen vom Kiosk 24/7 am Kurt-Schumacher-Platz, Tatort 5 in der Ermittlungsakte, sieht man den Täter reinkommen. In sechs Sekunden schießt er fünfmal. Zwei Kugeln treffen Gökhan Gültekin in Herz und Kopf, er ist 37 Jahre alt. Zwei Kugeln treffen Mercedes Kierpacz, eine in Lunge, Leber, Herz, die andere durchtrennt ihre Halsschlagader. Sie ist 35. Ferhat Unvar trifft eine Kugel an diesem Abend, sie durchdringt seine Leber, eine Niere, seine Wirbelsäule, er ist 23 Jahre alt.

† Ferhat Unvar: T-Shirt

† Ferhat Unvar: T-Shirt

Foto: Milos Djuric / DER SPIEGEL

Kim Schröder kommt oft in die »Ini«, so nennen sie den Raum. Sie lädt hier ihr Handy auf, loggt sich ins WLAN ein, macht Dario Milch warm. Sie ist 25 Jahre alt, in der Tatnacht war sie im vierten Monat schwanger mit ihm.

An diesem Tag im November sitzt sie auf einem Samtsessel, ihr gegenüber Armin Kurtović. Er hat viele Fragen an diese Nacht, in der sein Sohn starb. Kim ist eine der Augenzeugen, die ihm immer wieder von ihr erzählen. An diesem Nachmittag nimmt Kurtović ihren Sohn Dario auf den Arm, schaut rüber zu seiner Frau Dijana und sagt: »Wenn unsere Kinder ein Kind kriegen, sollen sie es Hamza nennen!«

Hamza Kurtović war der Sohn von Armin und Dijana Kurtović. In der Tatnacht war er mit seinen Freunden in der Arena Bar, dem Tatort 6.

In der Videoaufzeichnung der Arena Bar sieht man den Wirt, an der Theke einen älteren Gast, im Raum die Freunde Hamza, Momo, Piter und die beiden Hashemi-Brüder Etris und Nesar.

Etris Hashemi: Vor der Arena Bar habe ich Nesars Ring gesehen, ich habe zu ihm gesagt: Was ist das für ein hässlicher Ring? Er trug ihn an diesem Abend zum ersten Mal. Wir haben gelacht. Nesar liebte Versace.

† Nesar Hashemi: Ring

† Nesar Hashemi: Ring

Foto: Milos Djuric / DER SPIEGEL

Etris Hashemi ist der ältere Bruder von Nesar Hashemi, der 21 Jahre alt wurde. Die Brüder waren an diesem Tag noch in Frankfurt. Nesar ließ sich die Zahl »63454« auf die Innenseite seiner Oberarme stechen. Die beiden sind die Söhne von Mir Salam Hashemi, Schichtführer beim Reifenhersteller Dunlop. Er kam in den Achtzigerjahren aus Kabul, holte seine Frau Najiba nach, sie bekamen fünf Kinder, die es einmal besser haben sollten, in 63454 Kesselstadt.

Kesselstadt ist ein Viertel von Hanau mit hohen Blocks und dem Schloss Philippsruhe. Hier ist der Migrationsanteil hoch, hier leben Familien mit vielen Kindern. Für sie gibt es das Jugendzentrum, JUZ. Wenn es um 22 Uhr die Türen schließt, gibt es keinen Ort, an dem die Jugendlichen abhängen können. Die Arena Bar ist ein »Drecksloch«, wie sie selbst sagen. Eine Bar, die keine ist. Es läuft Fußball auf Flatscreens, in der Ecke stehen Daddelautomaten. Wenn es draußen kalt ist, geht man rein.

Piter Minnemann: Ich kam vom Boxtraining. Die Jungs hatten Pizza bestellt, ich habe mir auch eine geholt. Ich kam in die Arena Bar rein, dann haben wir schon die Schüsse vom Kiosk nebenan gehört.

Auf den Überwachungsbildern sieht man den Täter, in 13 Sekunden schießt er 16-mal. Die Freunde Hamza, Momo, Piter und die beiden Hashemi-Brüder Etris und Nesar verstecken sich hinter einer Säule im hinteren Teil der Bar, einige schaffen es hinter den Tresen, legen sich aufeinander. Der Täter schießt über die Theke. Alle werden angeschossen, nur Piter Minnemann nicht.

Etris Hashemi: Ich habe Momos Wunde zugehalten, er hat meinen Hals zugedrückt. Dann hat Piter Momo rausgezogen und hat gesagt, wir müssen hier raus, bevor er wiederkommt. Ich kann hier nicht so liegen und sterben, habe ich gedacht.

Etris Hashemi lief in den Kiosk nebenan, dort sah er Gökhan, Mercedes und Ferhat auf dem Boden liegen. Etris Hashemi kennt Ferhat Unvar, sie saßen in der Grundschule an einem Tisch. Die Freunde Hamza und Nesar waren zusammen im Kindergarten, an diesem Abend blieben die beiden Männer auf dem Boden der Arena Bar zurück.

Hamza Kurtović trafen zwei Kugeln, in Oberarm und Hinterkopf, sein Herz schlug weiter. Er wurde um 0.35 Uhr in einer Unfallklinik in Frankfurt für tot erklärt. Nesar Hashemi bohrten sich zwei Kugeln durch den Rücken, trafen sein Herz, seine Hauptschlagader, Magen und Leber. Er starb noch am Tatort.

Draußen auf dem Parkplatz lehnte Etris Hashemi an einem silbernen Mercedes und hielt sich seine Wunde zu. Er spürte seine Zunge nicht mehr. Er hatte eine Kugel im Kiefer, einen Durchschuss in der Schulter. Auf dem Fahrersitz saß Vili-Viorel Păun, 22 Jahre alt, der Täter hatte ihm in die Stirn geschossen, in Brust und Schulter. Im Einsatzbericht jener Nacht ist vermerkt, dass er noch röchelte, als die ersten Beamten am Tatort ankamen. Er war vor drei Jahren aus Rumänien nach Hanau gekommen. Er war der einzige Sohn der Lagerarbeiter Iulia und Niculescu Păun, ein Wunschkind. Das Bild seines silbernen Mercedes CLS 320, abgedeckt mit goldfarbenem Sichtschutz und geöffneter Fahrertür, ging um die Welt.

† Vili-Viorel Păun, 22

Vater Niculescu, 45

Mutter Iulia, 42

Vili-Viorel Păun war Kurierfahrer bei Amazon. Er hatte seinen Wagen aus Rumänien mitgebracht. Er lebte mit seinen Eltern in der Innenstadt, wenige Minuten vom Heumarkt entfernt, dem ersten Tatort dieser Nacht. Erschossen wurde dort Kaloyan Velkov, 33, der in der Bar La Votre hinter der Theke stand, Tatort 1. Er hatte an dem Abend seinem Sohn noch eine Winterjacke nach Bulgarien geschickt. Vier Kugeln.

Erschossen wurde der Kammerjäger Fatih Saraçoğlu, 34, vier Kugeln, während er am Straßenrand, Tatort 2, eine Zigarette rauchte. Er hatte sich mit Kollegen getroffen, seine Firma sollte bundesweit expandieren. Seiner Freundin schrieb er wenige Minuten zuvor noch eine WhatsApp: »Ich bin gleich da, mein Leben.«

† Kaloyan Velkov: Baum

† Kaloyan Velkov: Baum

Foto: Milos Djuric / DER SPIEGEL

Erschossen wurde Sedat Gürbüz, er war der Betreiber der Shishabar Midnight, Tatort 3. Er war nur da, weil er sich von seinen Mitarbeitern persönlich verabschieden wollte, er hatte wenige Tage zuvor seinen Laden verkauft. Er war 29 Jahre alt, Kopfschuss.

Eine Überwachungskamera zeichnete kurz danach auf, wie der Täter auf den Wagen von Vili-Viorel Păun schoss, der den Rückwärtsgang einlegte und begann, dem Täter zu folgen. Păun fuhr ihm 2,4 Kilometer hinterher, bis nach Kesselstadt, zu jenem Lidl-Parkplatz, Tatort 4.

Mindestens 47-mal schießt der Täter an diesem Abend, als Motiv geben die Ermittler »heimtückischen Mord aus niedrigen Beweggründen« an, es sei ihm darum gegangen, gezielt Personen ausländischer Abstammung zu töten.

Notrufe

Çetin Gültekin: Wenn die bei Vili rangegangen wären, dann hätten wir jetzt nicht neun, sondern drei Opfer zu beklagen?

Niculescu Păun, Vilis Vater, sitzt oft auf einem der schwarzen Ledersessel und erzählt von Vili, seinem einzigen Sohn. Er sprach fünf Sprachen, wollte Lebensmitteltechniker werden. Er, der Vater, habe an diesem 20. Februar das Fenster in seinem Zimmer geschlossen und gedacht: Vielleicht ist Vili mit einer Frau unterwegs? Er fuhr später zur Arbeit ins Lager, Whiskey auf Paletten packen, erst am Nachmittag erfuhr er, dass sein Sohn tot ist. In Rumänien war Niculescu Păun Taxifahrer, er lebte in einem Dorf in der Nähe von Bukarest, er kam nach Hanau für Vili, sagt er.

Monate nach der Tat gaben die Ermittler ihm Vilis Handy zurück. Als Păun das Handy entsperrte und durch die Anrufliste scrollte, entdeckte er, dass sein Sohn in dieser Nacht dreimal den Notruf 110 gewählt hatte. Seit er das weiß, hält er in der Initiative immer wieder die Screenshots hoch.

Ende November kam die Ermittlungsakte zu den Familien, die Anrufe von Vili haben sie in den Notrufaufzeichnungen nicht gefunden. An diesem Morgen wird es sehr laut am Frühstückstisch der Initiative. Çetin Gültekin, der Bruder von Gökhan, hebt einen Aktenvermerk in die Luft und knallt ihn auf den Tisch.

Die Hanauer Polizei, heißt es darin, konnte aufgrund der hohen Anzahl nicht alle Anrufe entgegennehmen. Die Notrufe seien in der Leitstelle der Polizeiwache Hanau 01 aufgelaufen und an nur zwei Arbeitsplätzen bearbeitet worden. Es habe technische Störungen beim Mitschnitt gegeben.

Laut der Notrufliste erreichte sie der erste Anruf um 21.56 Uhr, etwa eine Minute nachdem der Täter am ersten Tatort auf Kaloyan Velkov geschossen hatte, der zweite fast zeitgleich. Während der Täter am letzten Tatort, der Arena Bar, schoss, nahm die Polizei einen dritten Anruf entgegen. Die Notrufe wurden nicht umgeleitet. Die Anrufe von Vili-Viorel Păun liefen ins Leere. Mehr als eine Stunde lang nahm die Polizei in dieser Nacht gar keine Anrufe mehr entgegen.

Serpil Unvar: Eine Stunde soll keiner angerufen haben?

Çetin Gültekin: Die sollen uns das wenigstens nicht schicken und uns für dumm verkaufen.

Niculescu Păun: Vielleicht haben sie eine Zigarettenpause gemacht?

Im Januar 2021, fast ein Jahr nach der Tat, räumt das Polizeipräsidium Südosthessen auf Anfrage des SPIEGEL die Überforderung der Beamten in der Leitstelle ein und erklärt, es sei ein »Überleitungskonzept geplant«, das irgendwann in diesem Jahr Notrufe nach Frankfurt umleiten soll.

Seit die Menschen in der Initiative wissen, dass Vili-Viorel Păun vergebens den Notruf wählte, fragen sie sich, ob sein Warnruf vielleicht die sechs weiteren Morde hätte verhindern können. Sie fragen sich, könnte Vili selbst noch leben, wenn die Beamten seinen Anruf angenommen und ihm gesagt hätten: Brechen Sie die Verfolgung ab!

Sie wissen es nicht.

Sie wissen nur, dass ihr Innenminister Peter Beuth bei einem Zusammentreffen mit ihnen im hessischen Landtag im vergangenen Mai die Polizeiarbeit dieser Nacht lobte und ihnen nichts von diesem aktenkundigen Versagen seiner Beamten erzählte.

An diesem Vormittag sind sie wütend. Sie verstehen nicht, warum sie erst selbst rekonstruieren müssen, was die Verantwortlichen schon seit Monaten wissen?

Ihre Wut richtet sich schon lange nicht mehr nur auf den Täter.

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Auszüge aus dem WhatsApp-Verkehr von Armin Kurtović mit seiner Tochter Ajla Kurtović:

Ajla, 22.12 Uhr: Es war eben eine Schießerei in Hanau. Am Heumarkt. Mit scheinbar einem Toten.

Armin, 22.19 Uhr: Hier bei Lidl war auch was.

Ajla: Eben?

Armin: Ja.

Ajla: Was war da? Vielleicht hat es was miteinander zu tun?

Armin: Weiß nicht.

Ajla, 22.24 Uhr: Und was war in Kesselstadt?

Armin: Nichts.

Ajla: Du hast doch geschrieben das da was war?

Armin: Ja, aber nichts Großes. Ich fahre jetzt in die Stadt. Hier kreist Hubschrauber.

Ajla: Ich gehe jetzt schlafen.

Ajla Kurtović geht offline.

Armin, 22.35 Uhr: Ich laufe zu Lidl, hier soll es auch Tote geben.

Fünf der betroffenen Familien leben in Kesselstadt. Diejenigen, die ihre Kinder auf dem Handy nicht erreichten, liefen zum Kurt-Schumacher-Platz.

Çetin Gültekin: Als ich vor dem Lidl-Parkplatz ankam, lag meine Mutter schreiend auf dem Asphalt. Der Tatort war abgesperrt. Sie hat mich am Kragen gepackt und gesagt, geh da rein, und hol deinen Bruder raus. Ich habe einem Polizisten gesagt, tun Sie mir einen Gefallen, ich rufe meinen Bruder an, Sie gehen rein in den Kiosk und sagen mir, ob es klingelt. Er kam zurück und sagte: Ja, es klingelt.

Auf einem Tatortfoto liegt Gökhan Gültekin zusammengesackt hinter der Theke. Er war dabei, sich eine Umzugsfirma in Hanau aufzubauen, arbeitete als Hausmeister in Krankenhäusern, abends jobbte er im Kiosk. Die Leute im Viertel nannten ihn Gogo. Çetin und Gökhan sind die Söhne eines Mannes, der Ende der Sechzigerjahre den Südosten der Türkei verließ, um in Deutschland Autobahnen zu bauen. Er wollte Geld für zwei Ochsen sparen und zurückkehren. Als er an der A 45 schuftete, wohnte er in einer Sammelunterkunft in Hanau. Die Stadt gefiel ihm, er blieb und holte seine Frau Hüsna nach. Sie bekamen zwei Söhne, zogen mit ihnen nach Kesselstadt.

Mir Salam Hashemi: Ich war am Tag davor in die Reha gefahren. Ich habe zu Nesar gesagt, gibst du mir einen Kuss, ich gehe jetzt. Er sagte, ich fahre dich zum Bahnhof, Papa. Nein, brauchst du nicht, ich fahre Bus, habe ich gesagt. In dieser Nacht hat Saida angerufen, Papa, es wird geschossen, die Jungs gehen nicht an ihr Handy. Ich habe dem Arzt gesagt, ich muss hier weg. Sie haben geträumt, hat er mir geantwortet. Ich habe ein Taxi gefunden, 300 Euro bezahlt. Vor dem Täterhaus hat der Fahrer mich rausgelassen. Alle Straßen waren abgesperrt. Ich habe der Polizei gesagt, ich wohne hier. Sie haben mich nicht durchgelassen.

Am Heumarkt wartete Emiş Gürbüz in einer Hotellobby. Hinter dem Absperrband, in der Shishabar gegenüber, lag ihr erstes Kind Sedat.

Diana Sokoli schlug die Polizistin, die ihr das Handy von ihrem Freund Fatih Saraçoğlu brachte. Er lag tot im Krankenwagen.

Kaloyan Velkovs Facebook-Account war noch stundenlang online, seine Cousine Vaska Zlateva schrieb ihm immer wieder: Sag mir, bist du okay?

† Kaloyan Velkov, 33

Cousine Vaska Zlateva, 35

Noch in der Nacht wurden die Angehörigen in eine Polizeihalle gefahren, sie saßen auf Turnbänken, es gab Twix und Snickers, Knoppers und schwarzen Tee. Im Morgengrauen verlas ein Beamter die Liste mit den Namen ihrer Toten.

Die Angehörigen erzählen sich in der Krämerstraße immer wieder von jener Nacht und wie sie sich dort das erste Mal bemerkten; wartend, weinend, irgendwann schreiend und um sich schlagend. Es war die Nacht, die sie zusammenführte, in der keiner da sein wollte, wo er war. Nach dem Verlesen der Namen hatten sie alle dieselben Fragen. Sie wussten nicht, wer ihre Kinder getötet hatte und warum. Wo sie jetzt waren. Viele von ihnen fuhren an diesem Morgen wieder an dem Lidl-Parkplatz vorbei und ahnten nicht, dass ihre Kinder dort noch lagen.

Hamza Kurtović hatte erst wenige Wochen zuvor seinen Job als Lagerist begonnen, er hatte seinem Vater gesagt: Da bleibe ich bis zur Rente. Armin Kurtović wählte aus der Halle die Hotline der Firma und teilte mit, Hamza sei verletzt und könne morgen leider nicht zur Arbeit kommen.

† Hamza Kurtović, 22

Schwester Ajla, 25

Vater Armin, 46

Mutter Dijana, 47

Abschied

Çetin Gültekin: Nach der Obduktion haben sie meinen Bruder zusammengenäht und in Stretchfolie gewickelt, damit er nicht aufgeht. Ich dachte immer, eine Obduktion macht man nur, wenn man nicht weiß, wie einer gestorben ist. In unserer Religion ist das Leichenschändung. Es ist so, als ob du einen Toten noch mal umbringst. Ich habe Gökhan eingeseift, Wasser über ihn gegossen, aus den Nahtstellen kam immer wieder rosa Blut. Es war die erste Waschung meines Lebens. Es hat fast zwei Stunden gedauert. Der Imam hat gesagt, es darf kein Blut an das Leichentuch kommen. Wir haben jedes kleine Loch an seinem Körper mit Watte gestopft.

In der Ermittlungsakte ist eine E-Mail vom 21. Februar einsortiert, eine Bundesanwältin schreibt an den Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof mit dem Betreff: »Anhörung der Angehörigen der getöteten Opfer – Antrag auf Beschlagnahme und Leichenöffnung«: »Bereits am 19. Februar 2020 wurden die Angehörigen von Hamza Kurtović, Ferhat Unvar und Gökhan Gültekin angehört.« In der Initiative sorgt dieser Satz für Wut. Den Familien wurde erst am Morgen des 20. Februar die Liste mit den Namen ihrer toten Kinder verlesen. Hamza Kurtović wurde erst um 0.35 Uhr im Krankenhaus für tot erklärt.

† Hamza Kurtović: Modellauto

† Hamza Kurtović: Modellauto

Foto: Milos Djuric / DER SPIEGEL

Ein Kriminaloberkommissar notierte Hamzas Handynummer, Schuhgröße und Adresse und schrieb auf das Formular Leichensache: »Kein Widerspruchsberechtigter bekannt«, obwohl die Eltern, polizeilich registriert, in der Halle auf Informationen zu dem Aufenthaltsort ihres Sohnes warteten.

Sie kommen nicht darüber hinweg, dass sie ihre Kinder erst sehen durften, nachdem sie obduziert worden waren.

Armin Kurtović: Als der Gerichtsmediziner am nächsten Tag meinen Sohn angefangen hat auseinanderzunehmen, haben sie mir am Telefon immer noch erzählt, sie wüssten nicht, wo er ist. In der Akte habe ich später gelesen, dass sie sich bei der Staatsanwältin in Hanau den Beschluss geholt haben für die Obduktion, aber sie war gar nicht mehr zuständig. Der Generalbundesanwalt hatte den Fall bereits übernommen. Das ist Amtsanmaßung. Wenn du den Fehler bei der Behörde ansprichst, sagen sie, wir hatten so was noch nicht, die Beamten, die Sachbearbeiter, die Polizisten, sie waren alle nicht darauf vorbereitet. Aber was glauben die denn? Dass wir Familien darauf vorbereitet waren?

Najiba Hashemi: Ich habe das erste Mal in meinem Leben eine Leiche gesehen, es war die meines Sohnes. Als sie ihn gewaschen haben, ist Nesar noch eine Träne vom Auge geflossen. Ich wollte alles sehen. Ich wollte alles zurück. Ich will nicht die Augen zumachen und vergessen. Wir mussten sechs Tage warten, bis sie ihn uns zurückgaben.

Filip Goman war in der Tatnacht nicht mit in die Polizeihalle gegangen, er blieb an dem Lidl-Parkplatz stehen. Er hoffte nicht mehr, er hatte keine Fragen an die Beamten, die Freunde seiner Söhne hatten sie gesehen, er wusste, Mercedes lag erschossen auf dem Boden im Kiosk.

Filip Goman: Ich habe zu dem Polizisten gesagt, nicht, dass es später heißt, der Zigeuner hat die Spurensicherung kaputt gemacht, ich warte, aber Sie müssen mir versprechen, dass ich noch reindarf, um mich von meiner Tochter zu verabschieden.

Filip Goman ist 57 Jahre alt, Sohn polnischer Roma aus Kattowitz. Seine Großeltern wurden im KZ ermordet, er zog in den Sechzigerjahren im Wohnwagen mit seinen Eltern durch deutsche Städte. Er besuchte nie eine Schule, wurde Teppichhändler. Als seine Frau Sophia schwanger wurde, führte er sie ins Kino, sie sahen der »Graf von Monte Christo«, sie gaben ihrer Tochter den Namen der schönen Katalanin im Film: Mercedes. Goman kaufte eine Villa in der Kastanienallee, fuhr Rolls-Royce, lebte auf Marmorböden, sie machten Urlaub in Monte Carlo. Seine Söhne sagen: Er war dreimal Millionär und hat alles verzockt. Goman verheiratete Mercedes mit ihrem Cousin, mit 18 bekam sie Colorado, ihren Sohn. Die Ehe ging auseinander, sie zog zurück in die Villa, heiratete einen zweiten Mann. Als der ins Gefängnis musste, zog sie nach Kesselstadt, arbeitete im Kiosk, aber auch wenn sie nicht arbeitete, war »Benz« immer da, sagen ihre Freunde. Sie nannte es »chillen«, sagt Goman. Sie trank Jacky-Cola und drehte die Musik auf.

† Mercedes Kierpacz, 35

Sohn Colorado, 17

Mutter Sophia, 60

Vater Filip Goman, 57

In dieser Nacht wartete Filip Goman 20 Stunden vor dem Lidl-Parkplatz. Nach Abschluss der Spurensicherung führte ein Polizist ihn zu Mercedes.

In der Initiative erzählt er oft von diesem Moment, seine Tochter habe so ausgesehen, sagt er, als ob sie sagen wollte: Entschuldige, ich wollte hier nicht sterben. Wenn Goman von seinem Abschied spricht, erstarren die Blicke der anderen, er ist der Einzige, der sein Kind vor der Obduktion noch sah.

Serpil Unvar: Filip war schlau, er hat da gewartet. Wir wussten ja nicht, dass sie da drin waren. Für mich war Ferhat hundert Prozent im Krankenhaus und nur verletzt.

FilipGoman: Aber Serpil, du warst doch da.

Serpil Unvar: Ja, ich war da. Ich habe alle Polizisten gefragt, sein Bild gezeigt, so einer liegt hier nicht, haben sie mir gesagt.

Drei Wochen nach der Tat bekam Serpil Unvar von der Stadt die Sterbeurkunde ihres Sohnes, da las sie das erste Mal seine offizielle Todeszeit: 3.10 Uhr.

Noch Monate nach der Tat quält Unvar die Frage, wie lange hat Ferhat gelitten in dieser Nacht? Hat ihm fünf Stunden lang wirklich keiner geholfen?

Serpil Unvar wurde in einer kurdischen Stadt im Süden der Türkei geboren, ihr Vater ging nach Paris, später zog sie ihm nach, heiratete einen Mann, den ihre Brüder aussuchten, einen Sohn kurdischer Straßenbauer aus Hanau. Sie bekam vier Kinder, wurde nie glücklich mit ihm. Als sie sich von ihm trennte, wurde Ferhat für seinen kleinen Bruder Mirza der Vater. Sie gab Ferhat Dostojewski zu lesen, da war er zwölf, er sollte ein Gewissen kriegen, sagt sie.

† Ferhat Unvar, 24

Bruder Mirza, 8

An seinem letzten Tag war sie in der Küche, telefonierte gerade, winkte ab, Ferhat ging ins Jugendzentrum, spielte Billard, kam sechs Minuten vor dem Täter im Kiosk an.

Auf den Videos der Überwachungskamera sinkt Ferhat Unvar zu Boden, greift sich in die Hosentasche, zieht sein Handy raus, dann bricht die Videoaufzeichnung aus ungeklärten Gründen ab. Als die Kamera weiterläuft, sind drei Minuten vergangen. Ferhat ist nicht mehr im Bild, laut den späteren Tatortbildern ist er an Gökhan und Mercedes vorbeigekrochen, hinter die Theke. Laut dem letzten Augenzeugen, der im Kiosk war, habe Ferhat Unvar noch auf Türkisch gesagt: »Ich brenne.«

Die ersten Polizisten, die den Kiosk betreten, schauen nicht hinter die Theke. Später steigt ein Polizist mehrfach über ihn und versucht das Ladenfenster mit einem Sonnenschirm zu verdecken, er bückt sich nie.

Serpil Unvar hat ihren Anwalt an den Generalbundesanwalt schreiben lassen, sie hat ihre Zweifel immer wieder in Interviews geäußert. Als die Justizministerin Christine Lambrecht im vergangenen September die Angehörigen in Hanau besuchte, fragte Unvar, ob sie ihr bei der Klärung dieser Frage helfen könne. In der Initiative sitzt sie oft unter Ferhats Bild und spricht mit ihm: Was machst du da, Ferhat? Dann schreit sie wieder die an, die neben ihr sitzen.

Serpil Unvar: Sie haben einfach nicht nach ihm geguckt!

Çetin Gültekin: Vielleicht haben sie ja nur die Zwei vergessen aufzuschreiben, Serpil, vielleicht ist seine Sterbezeit 23.10, statt 3.10 Uhr, verstehst du?

Serpil Unvar: Nein, verstehe ich nicht.

Sie hat seine Bettwäsche nie abgezogen. Im Bad sieht man die Brandlöcher seiner Zigaretten, in der Tür Spuren seiner Fäuste, auf dem Kamin seinen eingekratzten Namen.

Sie bekam nach der Tat das Handy ihres Sohnes zurück, sie hat das Telefon in sein Zimmer gelegt. Auf dem Display sind noch Ferhats Fingerabdrücke, nachgezeichnet mit seinem Blut.

Alltag

Çetin Gültekin: Gibt es hier denn nie Tee für Çeto?

Newroz Duman: Çetin, du hast doch auch zwei Hände.

Çetin Gültekin: Keiner denkt an mich.

Sie treffen sich hier an allen sieben Tagen der Woche. Ab zehn Uhr ist die Tür geöffnet, die meisten sind am Nachmittag da, sie bestellen dann Döner und Pizza und sagen sich, dass sie weniger Kohlenhydrate essen müssen. Manchmal ist es schon kurz vor Mitternacht, wenn sie wieder abschließen.

Sie nennen den Raum ihr Kinderzimmer und sich inzwischen Familie, dazu zählen sie auch jene, die helfen, ohne selbst jemanden verloren zu haben:

Hagen Kopp, 60, der schon in den Siebzigern auf die Straße ging, gegen Kriege und für die Umwelt, der sich hier bescheiden »Hausmeister« nennt, den Corona-Luftreiniger ein- und ausschaltet, Videokonferenzen mit der Stadt organisiert, Anwälte trifft, neue Zeugen identifiziert.

Marion Bayer, 42, die früher in der Sozialistischen Verlagsauslieferung arbeitete und hier eine Art Staatssekretärin der Initiative ist, die im Namen der Familien an Steinmeier schreibt, an Merkel, an den Bürgermeister Kaminsky.

Newroz Duman, 31, die als Kind mit ihrer kurdischen Familie nach Hanau floh, heute ist sie eines der bekanntesten Gesichter der linken Szene. Sie stellt sich seit dem ersten Tag nach dem Anschlag auf Bühnen und ruft die Namen der Toten.

An diesem Morgen hat Newroz frische Blumen geholt. Çetin sagt, dass ihn keiner liebe. Serpil redet über die neuen Steine für ihren Garten. Mirza, acht Jahre alt, der kleine Bruder von Ferhat Unvar, daddelt auf dem Handy, wieder »Brawl Stars«. Armin Kurtović sitzt in der Ecke und streicht durch die Bilder von Wasserbrunnen, die er für Hamza in Äthiopien bauen lässt.

Goman telefoniert mit der Sekretärin des Opferbeauftragten. Er redet wieder über den Mörder, der Monate vor der Tat bei dem Generalbundesanwalt einen ominösen Geheimdienst anzeigte, dabei auf seine eigene Website verwies, auf der er dann 15 Tage vor der Tat zum Auslöschen ganzer Völker aufrief.

Filip Goman: Der Terrorist hat sich monatelang preisgegeben. Wo war die Regierung? Wo war die Polizei? Wo war der Staatsanwalt? Oder haben sie gedacht, lass ihn die Kanaken einfach abknallen? Keiner sagt das offiziell, wie rassistisch hier alle sind. Auch wenn ich dafür ins Gefängnis komme, der Präsident von Deutschland, wie heißt der? Stahlmayr.

Armin Kurtović: Steinmeier ...

Filip Goman: ... in so einem Fall wie in Hanau, so ein Mensch wie Stahlmayr muss etwas machen!

Armin Kurtović: ... Steinmeier.

Filip Goman: Glauben Sie mir, bei uns Roma gibt es auch so große Häuptlinge, die was zu sagen haben wie Stahlmayr.

Armin Kurtović: Filip, Steinmeier!

Filip Goman: Meine Frau hat wegen einem Betrug sechs Jahre und neun Monate bekommen. Wie heißt dieser Fußballer noch mal, Udo Jürgens?

Armin Kurtović: ... Uli Hoeneß.

Filip Goman: Wie viele Millionen hat er betrogen?

Armin Kurtović: ... 20 Millionen.

Filip Goman: Der ist doch einfach wieder raus! Zwei Jahre, dann offener Vollzug. Bei mir ist meine Tochter ermordet, ich bitte Sie um einen offenen Vollzug für meine Frau Roletta Balog.

Es hat Versuche gegeben, den Angehörigen Beileid auszusprechen. Die Bundeskanzlerin war im März zur Trauerfeier in Hanau, sie waren bei Ministerpräsident Bouffier in Wiesbaden eingeladen. Sie fuhren zu Frank-Walter Steinmeier ins Schloss Bellevue.

Aber wie nach vielen Anschlägen bleiben auch bei ihnen Fragen, die nie beantwortet werden. Sie haben das Gefühl, dass ihnen nicht alles gesagt wird. Nicht immer schnell genug geholfen wird.

Viele der Familien wohnen auch Monate nach der Tat noch in Kesselstadt, unweit des Tatorts, nicht weit vom Haus des Täters. Sophia, die Mutter von Mercedes, will weg.

Sophia Kierpacz: Der Bürgermeister sagt, das Sozialamt soll helfen. Das Sozialamt hilft nicht, wir sind Zigeuner, die geben keine Wohnung. Wenn ich eine schöne Wohnung finde, fragen sie, wenn sie uns sehen, wie viel Leute sind die? Ich bin in Deutschland geboren, meine Kinder sind hier geboren. Die Deutschen sagen immer Ausländer, Ausländer. Was machen denn die Ausländer, ich verstehe das nicht. Guck, unsere Kinder hat ein Deutscher umgebracht, ein Rassist.

Am Tag nach dem Attentat reiste Edgar Franke, der Opferbeauftragte der Bundesregierung, nach Hanau, er traf die Familien, den Bürgermeister, blieb sechs Tage. Hinterbliebene und Verletzte bekamen pauschale Soforthilfen. Eltern, Kinder und Lebenspartner je 30.000 Euro, Geschwister 15.000 Euro.

Franke vertritt ein Land, in dem Opferhilfen seit 20 Jahren angepasst werden, als müsse man immer größere Löcher flicken in einem Teppich, der auseinanderfällt. Um die Jahrtausendwende hatte der Bundestag beschlossen, es sei an der Zeit, Opfer rassistischer Übergriffe mit Bundesgeld zu entschädigen. Nach den Anschlägen auf deutsche Urlauber in Djerba wurden die Hilfen auf Opfer von Terrorangriffen ausgeweitet, später auf Opfer aller extremistischer Übergriffe; linke, rechte, islamistische. Vor sieben Jahren zahlte die Bundesregierung 199.000 Euro aus, im vergangenen Jahr waren es knapp 2,5 Millionen.

Sophia Kierpacz: Herr Franke hat mir gesagt: Ja, Frau Kierpacz, wir haben Ihnen geholfen. Was hast du uns geholfen? Ich hätte mein Kind für Milliarden nicht abgegeben. Aber wie sollen ihre Kinder ohne Mutter weiterleben? Wer soll für sie arbeiten gehen? Wer soll aufpassen? Wer soll ihnen beibringen, wie man lebt? Ich bin eine Oma. Mutter ist was anderes. Was versteht eine Oma schon. Nix.

Sophia kümmert sich um den Sohn von Mercedes, er trägt ein Armband, das seine Mutter bei seiner Geburt kaufte, sein Name ist eingraviert: Colorado.

† Mercedes Kierpacz: Armband

† Mercedes Kierpacz: Armband

Foto: Milos Djuric / DER SPIEGEL

Er ist 17 und kommt oft in die Initiative, er umarmt Serpil Unvar, sie kauft ihm Parfüm und sagt, er soll bei ihr einziehen.

Sie sagt, wenn ich so große Jungs sehe, denke ich an Ferhat. Er sagt, wer denkt schon an dich, so sehr wie deine Mutter?

Therapie

Serpil Unvar: Na Armin, wie war deine Therapie? Hast du die Frau auch verrückt gemacht?

Armin Kurtović: Die Therapeutin will mit mir Entspannungsübungen machen. Anspannen, atmen, entspannen. Sie sagt, Sie müssen aufhören mit der Akte.

Armin Kurtović steht vor der Initiative, raucht und redet mit seiner Frau Dijana und Serpil Unvar wieder über den verschlossenen Notausgang der Arena Bar. Kurz nach der Tat hatte er im Viertel gehört, die Polizei habe in Absprache mit dem Barbetreiber die Tür versperren lassen, um bei Razzien besser die Leute kontrollieren zu können. Monate später las er im Tatortbericht, dass auch in der Tatnacht die Tür verschlossen war. Seitdem recherchiert Kurtović.

Überlebende haben ihm erzählt, sie seien, als sie die Schüsse vom Kiosk hörten, erst gar nicht zum Notausgang gelaufen, weil sie gewusst hätten, dass er verschlossen ist. Sie seien in die Ecke geflohen und hätten wie »auf der Schlachtbank« auf den Täter gewartet. Kurtović versteht nicht, warum die Staatsanwaltschaft Hanau seit Monaten keine Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet hat. Er fragt: Wenn es so oft Razzien gab, warum war die Bar nicht längst dicht? Wollte die Polizei beobachten, wer da rein- und rausgeht? Er fragt: Was war dann mein Sohn? Ein Kollateralschaden? Um Antworten auf seine Fragen zu finden, sprach er Ermittler an. Er ließ seinen Verdacht dem hessischen Innenminister Beuth ausrichten. Er bekam nie eine Antwort. Für diesen Nachmittag hat er wieder Zeugen in die Krämerstraße bestellt, Stammgäste der Bar, ehemalige Mitarbeiter.

Armin Kurtović war Busfahrer in Frankfurt, wenn er mit ihnen diese Gespräche führt, wirkt er wie ein Chefermittler, der überzeugt davon ist, wenn alle ihren Job gemacht hätten, würden Nesar und Hamza heute noch leben.

Dijana Kurtović: Die Therapeutin sagt, wir müssen an uns denken.

Serpil Unvar: Ja, natürlich, gehen wir doch einkaufen, Dijana, du vergisst Hamza, ich Ferhat.

Armin Kurtović: Ich habe ihr gesagt, ich würde mich schämen, an sein Grab zu gehen, wenn ich an mich denke.

Grab

»Wir fahren kurz zu Hamza.«

»Ich gehe noch schnell zu Ferhat.«

»Haydi, beeilt euch, Friedhof macht gleich zu.«

Es sind Sätze, die jeden Tag fallen in der Krämerstraße, so alltäglich, als ob einer zu dem anderen sagt, ich gehe noch kurz zum Bäcker.

Auf dem Friedhof

Auf dem Friedhof

Foto: Milos Djuric / DER SPIEGEL

Serpil Unvar: In meinem Leben habe ich nie zugelassen, dass mir jemand Blumen schenkt. Ich hasse Blumen. Sogar meinem Ex-Mann habe ich es nicht erlaubt. Und jetzt bringe ich jeden Tag Ferhat Blumen.

Auf dem Hanauer Friedhof liegen die drei Freunde Nesar, Hamza und Ferhat beieinander. Wenn die Eltern sie gemeinsam besuchen, leeren sie das Regenwasser aus den Vasen, packen die Engel weg, die andere Besucher vorbeibringen. Legen ihre Handys auf das Grab, spielen Koransuren von YouTube ab, streichen über die braune Erde. Die Stadt Hanau hat ihren Kindern Ehrengräber gegeben, Gräber, die nie aufgelöst werden. Es soll eine Gedenktafel an dem Friedhofsweg aufgestellt werden, mit allen neun Namen. Armin Kurtović sagt, nicht, dass es irgendwann heißt, es waren nur drei.

† Gökhan Gültekin: Gebetskette

† Gökhan Gültekin: Gebetskette

Foto: Milos Djuric / DER SPIEGEL

Eine halbe Stunde Autofahrt von Hanau entfernt liegt Sedat Gürbüz auf dem Friedhof von Dietzenbach. An dem Friedhof hängt keine Gedenktafel. Seine Mutter Emiş Gürbüz sagt, sie zünde hier an kalten Tagen eine Kerze an, damit Sedat da unten nicht friere. Seit zehn Monaten kämpft sie dafür, dass er die gleiche Anerkennung bekommt wie die toten Kinder von Hanau. Sie schrieb Ministerpräsident Bouffier an und fragte ihn: »Wieso ist das Grab von meinem Sohn in Dietzenbach kein Ehrengrab? Ist das nicht auch sein Recht?« Sie schrieb den gleichen Brief an Steinmeier, an den hessischen Opferbeauftragten. Sie schrieb dem Bürgermeister ihrer Stadt, der sie bis heute nicht besucht hat.

Salahettin Gürbüz: Vielleicht hätte ich als Vater meinen Sohn nehmen und dieses Land verlassen sollen. Wofür betteln wir eigentlich? Und wenn sie sein Grab in Gold gießen. Er kommt nicht mehr wieder.

Emiş Gürbüz hat begonnen, Briefe an den Bürgermeister der türkischen Stadt ihrer Eltern zu schreiben, vielleicht kann er für Sedat eine Gedenkplakette aufstellen?

† Sedat Gürbüz: Handtuch

† Sedat Gürbüz: Handtuch

Foto: Milos Djuric / DER SPIEGEL

Sie sagt, sie hasse Deutschland inzwischen, dieses Land, in das ihr Vater vor 50 Jahren kam, um Autoteile auf ein Fließband zu legen. Diese Stadt, in der sie einen Schrebergarten hat, in der sie die gleiche Grundschullehrerin hatte wie ihr Sohn Sedat. Über einem Stuhl am Küchentisch liegt noch immer Sedats Jacke, im Bad hängt ein Handtuch, bestickt mit seinem Namen, ein Geschenk zu seiner Geburt. Jeden Abend schließt sie sein Handy an den Strom, sie sagt, es solle nie ausgehen.

Sedat war faul in der Schule, sagt sie, er liebte die Marke Boss, mit einer Abfindung von Rewe eröffnete er die Shishabar Midnight am Heumarkt in Hanau. Der Laden hatte 23 Stunden am Tag auf, Sedat veranstaltete Partys, lud DJs aus Frankfurt ein.

† Sedat Gürbüz, 29

Vater Salahettin, 56

Mutter Emiş, 51

Emiş Gürbüz kam nie in seinen Laden nach Hanau. Seit Sedat tot ist, fährt sie fast jeden Sonntag daran vorbei, die Initiative ist nur wenige Schritte entfernt.

Hier sagt sie den anderen, dass die AfD das Ehrengrab und die Stele verhindern will, dass einer stattdessen Stolpersteine vorschlug. »Die wollen auf Sedat treten.«

Tatwaffe

Çetin Gültekin: Wenn Tobias eine Kettensäge gehabt hätte, hätte er Gökhan vielleicht einen Arm abgesägt, Mercedes ein Bein, aber er hätte es nicht geschafft, neun Menschen zu töten.

Eine der Fragen, die die Eltern mitnehmen zu ihren Treffen mit Politikern, mit der Justizministerin, mit der Leiterin der Waffenbehörde, ist die nach der Waffenbesitzkarte des Täters. Egal wen sie fragen, alle verweisen sie auf laufende Ermittlungen.

Sie wissen inzwischen vieles aus ihren eigenen Ermittlungen.

Sie wissen, dass der Täter 2013 seinen ersten Antrag stellte bei der Waffenbehörde. Dass er angab, er brauche die Waffenbesitzkarte für die »Ausübung des Hobbys des sportlichen Schießens«. Dass er auf dem Formular einwilligte, die Waffenbehörde dürfe sich an das Gesundheitsamt wenden. Sie haben in der Akte gelesen, dass die Waffenbehörde sich nie an das Gesundheitsamt wandte, weil er ein veraltetes Formular unterschrieb. 13 Monate zuvor hatte der hessische Innenminister die Waffenbehörde angewiesen, keine Regelanfragen mehr bei Gesundheitsämtern zu stellen.

Sie wissen jetzt, dass der Mann, der ihre Kinder tötete, zwangseingewiesen worden war wegen einer paranoiden Schizophrenie. Dass er in Handschellen ins Krankenhaus gebracht wurde. Sie wissen, dass er auch in den Jahren danach immer wieder in Ermittlungsakten auftauchte: Hausverbote, Drogenschmuggel, Anzeige wegen des Erschleichens von Sozialhilfe und wegen fahrlässiger Brandstiftung. Er bekam trotzdem seine zweite Waffenbesitzkarte. Über die Jahre tauchte der spätere Täter in 15 polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Akten auf.

Warum, fragen die Angehörigen sich, hat niemand überprüft, ob so ein Mann eine Waffe hat?

Gedenken

Ferhat springt im tiefsten Winter für eine Mutprobe in den Main. Nesar posiert vor seinem Auto, Hamza ist am Meer, Kaloyan tanzt auf Tischen, Mercedes steht im Stadion von Eintracht Frankfurt.

In der Krämerstraße leben die Toten in den Handys ihrer Eltern. Fast alle haben ihre Profilbilder ausgewechselt: auf Facebook, Signal und WhatsApp sind jetzt die Gesichter ihrer Kinder zu sehen. Auf ihren Handys streichen sie ständig durch Bilder, die sie vor dem 19. Februar nicht kannten, weil Freunde ihrer Kinder sie ihnen erst nach der Tat zuschickten.

Vaska Zlateva: Wenn ich mit Kaloyans Sohn in Bulgarien telefoniere, hält er den Führerschein seines Vaters in die Kamera. Kaloyan war Lkw-Fahrer, er fuhr in den Irak, nach Syrien. In Hanau blieb er, weil er Geld sparen wollte, für die Augen-OP seines Sohnes. Alex ist acht Jahre alt, wenn wir ihn fragen, was er mal werden will, sagt er: Polizist. Er weiß bis heute nicht, warum sein Vater sterben musste.

An diesem Morgen im Dezember hat Serpil Brötchen mitgebracht, Newroz macht Rührei, Çetin will Tee. Sie sitzen wieder gemeinsam am Frühstückstisch.

Çetin Gültekin: Ich will für das Zimmer meiner Mutter ein menschengroßes Bild von Gökhan machen, megagroß.

Serpil Unvar: Mach das nicht! Wenn sie das Bild anguckt, wird sie an den Tod ihres Kindes erinnert. Warum machst du das?

Çetin Gültekin: Was soll ich machen? Sie will das.

Serpil Unvar: Nein, Çetin.

Çetin Gültekin: Newroz, sag mal, 105 Zentimeter geht?

Newroz Duman: Der Mann hat gesagt, ab 120, weil das Porträts sind.

Çetin Gültekin: Dann mach mal bitte 120 zu 120.

Serpil Unvar: Hört auf, Çetin, häng da Charlie Chaplin auf. Ich habe noch ein Bild von ihm, willst du?

Çetin Gültekin, 46, ist nach dem 19. Februar zu seinen Eltern zurückgezogen. Sein krebskranker Vater ist drei Wochen nach der Tat verstorben. Gültekins Sohn heißt Mert, er ist 26 und lebte mit seinem Onkel in einem Zimmer, jetzt schläft Çetin in dem Bett seines toten Bruders.

† Gökhan Gültekin, 37

Neffe Mert, 26

Mutter Hüsna, 67

Bruder Çetin, 46

Çetin Gültekin: Meine Mutter kommt manchmal im Morgengrauen rein und schreit: Wie kannst du nur ruhig schlafen, während dein Bruder unter der kalten Erde liegt? Mert und ich stehen dann schnell auf und verlassen die Wohnung. Wir kommen in die Stadt, hocken uns irgendwo hin und gehen erst gegen zwölf Uhr wieder nach Hause. Wir lügen sie an und sagen: Wir haben noch einen Antrag für Gökhan gestellt, ein Formular ausgefüllt, nur damit meine Mutter denkt: Die haben sich gekümmert, etwas gemacht für mein totes Kind!

An manchen Tagen kommt Hüsna Gültekin in die Initiative, sie ist 67, schiebt einen Rollator vor sich her. Sie ist eine Art Dorfvorsteherin der Initiative. Wenn sie kommt, halten alle die Tür auf, bringen Tee.

Weiterleben

Hüsna Gültekin: Träumt ihr von euren Söhnen?

Najiba Hashemi: Nein, leider nicht.

Serpil Unvar: Nur einmal.

Hüsna Gültekin: Ich habe seine Bilder in mein Zimmer gehängt, alles mit seinem Gesicht vollgestellt, aber ich träume trotzdem nicht von ihm.

Irgendwann sagt Serpil Unvar: Warum ist mein Kind tot? Ich hasse mich, mein Kind ist getötet, und seit Monaten sitzen wir hier rum und leben einfach weiter! Wie können wir nur leben?

Mir Salam Hashemi: Wenn ein Vogel sein Baby verliert, was macht er? Wenn das Baby vom Baum runterfällt oder eine Katze es raubt? Er schreit die ganze Zeit und kann nichts machen.

Nesar Hashemi hat in der Firma von seinem Vater Anlagenmechaniker gelernt, er wollte Ausbilder werden. Bei Dunlop nannten sie ihn nur Hashemi junior. Sein Vater hat es bis heute nicht geschafft, seinen Spind in der Firma leer zu räumen.

† Fatih Saraçoǧlu: Handwerkerhandschuhe

† Fatih Saraçoǧlu: Handwerkerhandschuhe

Foto: Milos Djuric / DER SPIEGEL

Diana Sokoli: Ich hätte mir auch nie vorgestellt, dass ich in Bauarbeiterklamotten losgehe, Tiere jage und umbringe, aber das ist das, was Fatih geliebt hat, seine Arbeit.

Diana Sokoli und Fatih Saraçoğlu sind im gleichen Viertel von Regensburg aufgewachsen, in Hanau begegneten sie sich zufällig wieder, sie wurden ein Paar. Sie eröffnete einen Beautysalon, er eine Kammerjägerfirma. Diana Sokoli trägt jetzt jeden Tag seine schwarzen Handwerkerhandschuhe, tötet Ratten und Kakerlaken.

† Fatih Saraçoǧlu, 34

Freundin Diana Sokoli, 33

An manchen Tagen holt Hamzas Mutter seine Schuhe aus dem Schrank und riecht an ihnen. Armin Kurtović fährt den Audi von Hamza. Najiba Hashemi hat die benutzten Taschentücher ihres Sohnes in eine durchsichtige Plastiktüte verknotet und in seinen Kleiderschrank gelegt. Emiş Gürbüz trägt Würmer von Sedats Grab weg und vergräbt sie im Gebüsch. Wenn einer das Bild von Sedat, das sie auf dem Postkasten aufgestellt hat, umklappt, sitzt sie die Nacht auf einem Stuhl in der Dunkelheit im Treppenaufgang, um den Täter zu erwischen. Çetin Gültekin sagt, ich kann nicht akzeptieren, dass ich anfange, es zu akzeptieren.

Keiner der Angehörigen war bis heute in einem Traumazentrum, keiner in einer Reha. Serpil Unvar fragt sich, wenn sie in der Initiative Teegläser in die Spülmaschine räumt, was machen wir eigentlich, wenn wir fertig sind mit unseren Fragen an die Behörden?

Ein Prozess wird geführt, damit Menschen die Wahrheit erfahren, damit die Verantwortlichen bestraft werden, damit man abschließen kann, irgendwann. In der Initiative führen ihn die Menschen auch, damit sie es schaffen, weiterzuleben.

Manche vergleichen hier ihr Leid. Dann sagen sie Sätze wie: Wenn ich wie die Păuns nur ein Kind gehabt hätte, hätte ich mich längst erschossen. Sie fragen: Glaubst du, die anderen Mütter leiden so wie ich? Manchmal sind sie wütend aufeinander, wollen, dass der andere noch mehr kämpft, lauter ist, die Behörden angreift, die Gesellschaft, die den Rassismus erst möglich macht mit ihrem Schweigen. Manchmal wollen sie auch, dass der andere leiser ist in Interviews. Schnell schlichten sie gegenseitig ihren Streit, nehmen sich in den Arm.

Piter Minnemann

Piter Minnemann

Foto: Milos Djuric / DER SPIEGEL

Schuld

Piter Minnemann: Am Anfang habe ich mich scheiße gefühlt, weil mir nichts passiert ist. Nicht, weil ich wollte, dass mir etwas passiert, aber ich dachte, ihre Kinder haben meine Kugeln abbekommen. Es gab Zeiten, da kamen die Leute zu mir und haben gesagt, was bist du? Du bist doch groß, du bist doch stark, du bist Kickboxer, warum hast du nicht einen Stuhl geworfen, warum bist du nicht auf ihn raufgesprungen? Warum hast du ihm nicht die Waffe aus der Hand genommen? Warum hast du nicht das Fenster kaputt gemacht? Warum hast du nicht irgendwas gemacht?

Piter Minnemann ist zwei Tage nach der Tat zum Islam konvertiert und heißt jetzt Bilal. Er ist 19 Jahre alt, in der Initiative nennt er Armin Kurtović inzwischen Onkel und Çetin Gültekin abi, großer Bruder. Bei einer Zigarette beruhigt er Mütter: Dein Sohn hat nicht gelitten, es ging schnell, ich hab's gesehen. Er gibt Interviews über den versperrten Notausgang. Minnemann ist ein begnadeter Redner, er eröffnet inzwischen ihre Kundgebungen. Er hat sich das Datum, den 19. Februar 2020, auf seine Brust stechen lassen.

Bei der Suche nach Schuldigen werden sie hier manchmal wütend aufeinander. Kim Schröder betritt die Initiative nur, wenn Mercedes' Mutter nicht da ist. Sophia sagt, Mercedes sei nur wegen ihr tot.

Piter Minnemann, Kim Schröder mit Dario, Muhammed Beyazkendir

Piter Minnemann, Kim Schröder mit Dario, Muhammed Beyazkendir

Foto: Milos Djuric / DER SPIEGEL

Diana Sokoli: Aber warum bist du schuld?

Kim Schröder: Weil ich dastand und mich gebückt habe, als die Schüsse gefallen sind! Wenn ich mich nicht gebückt hätte, dann wären wir halt alle tot in diesem Kiosk und Dario auch!

Diana Sokoli: Ich kann das aber nachvollziehen. Bei Fatih war es dasselbe. Er hat an dem Tag seinen Freund hergefahren, weil der die zehn Euro fürs Taxi sparen wollte. Ich habe den Freund auch geschlagen und beleidigt. Statt im Auto sitzen zu bleiben, sagte sein Freund, komm Bruder, lass raus, noch eine rauchen.

Çetin Gültekin: Das ist von Gott so gewollt, da können wir nichts machen. Dieser Freund, der gesagt hat, eine Zigarette, noch eine Zigarette, er war nur der Grund. Und es gibt ja auch Momente, in denen wir sagen, rauch noch eine Zigarette, und dann bleibst du am Leben.

Serpil Unvar ist wie viele hier gläubig. Seit Ferhat tot ist, sagt sie, falle es ihr schwerer, an Dinge wie Himmel und Hölle zu glauben. Sie hat Angst und fragt sich: Und was, wenn doch nichts kommt danach und ich ihn nie wiedersehe?

Serpil Unvar: Warum ist Ferhat tot, Emiş?

Emiş Gürbüz: Und warum ist Sedat tot, Serpil?

Serpil Unvar: Ferhat war ein trauriger Junge.

Emiş Gürbüz: Sedat hat immer gelacht.

Serpil Unvar: Hätte ich ihn glücklicher gemacht, wäre er nicht in dem Kiosk gewesen.

Emiş Gürbüz: Ich hätte einfach 24 Stunden in dieser Shishabar bei Sedat sitzen sollen. Wir haben nicht gut genug aufgepasst auf unsere Kinder, sie sind uns einfach aus den Händen geglitten, wir sind selber schuld.

Wenn es um die Frage der Schuld geht, führen Gespräche sie immer wieder zu den Eltern des Täters.

Die Mutter, die er in der Nacht erschoss, ist für die Angehörigen kein Opfer. Sie sagen, dass sie jahrzehntelang weggeschaut habe, nicht sehen wollte, was ihr Kind tat. Der Vater des Täters, ein 73 Jahre alter Ingenieur, war nach der Tatnacht in der Psychiatrie, dann im Hotel. Obwohl die Ärztin der Polizei empfahl, ihn nicht zurückzubringen, kehrte er drei Wochen nach der Tat in das Viertel zurück.

Serpil Unvar: Glaubst du, wir könnten in Hanau leben, wenn das unsere Kinder gemacht hätten?

Dijana Kurtović: Nein, natürlich nicht! Und guck mal, was in Trier passiert ist, und der Alte hat einen Führerschein und Autos. Der könnte doch auch in eine Menschenmenge fahren?

Ihre Ermittlungen haben ergeben: Der Vater des Täters hat sich mindestens 17-mal an Behörden gewandt, Anzeigen rassistischen Inhalts gestellt, alles nach der Tat vom 19. Februar. Er hat schriftlich die Tatwaffen und Munition seines Sohnes zurückgefordert. Er sieht in den Gedenkstätten, die an die Opfer erinnern sollen, »Volksverhetzung«. Er will, dass die Behörden die Internetseite seines Sohnes wieder freischalten. Er hat Jahre vor der Tat seines Sohnes die Arena Bar fotografiert und die Bilder auf seinem Rechner gespeichert.

An diesem Tag Ende Dezember halten die Angehörigen eine Mahnwache vor seinem Haus ab. Piter Minnemann steht am Mikrofon, er fragt und guckt die Polizisten an: Warum schickten die Beamten mich in der Tatnacht zu Fuß nach Hause? Warum versteckten sie sich hinter Etris, nur weil einer schrie: Der Täter ist wieder da? Warum geht es mir heute schlechter als vor einem Jahr? Warum haben wir wieder Angst? Wer schützt hier wen in diesem Land?

Ajla Kurtović: Nach der Trauerfeier rief mich die Migrationsbeauftragte der Polizei an. Sie sagte, es gebe neue Ermittlungsergebnisse, und mit meinem Papa könne man ja nicht reden, er sei so impulsiv. Der Vater vom Täter sei wieder da, ich möge es meinem Papa beibringen in einer ruhigen Minute, und es bringe ja auch nichts, sich zu rächen. Wenn wir uns rächten, würden wir die Polizeiarbeit behindern. Ich solle sie anrufen, falls mein Papa was plane. Ich habe aufgelegt und dachte: War das grade echt?

Die Beamten riefen in diesen Tagen alle Familien in Kesselstadt an, sie besuchten Überlebende, warnten auch Schwerverletzte wie Etris Hashemi, sich an das deutsche Recht zu halten, es seien immer wieder die Begriffe gefallen: Blutrache, Selbstjustiz, U-Haft.

Während Piter Minnemann auf der Mahnwache seine Fragen stellt, läuft der Vater des Täters hinter den Polizisten auf und ab und ruft: Verlassen Sie mein Grundstück. An der Leine führt er einen Schäferhund.

Heimat

Armin Kurtović: Ich habe überlegt, ob ich Hamza exhumieren lasse und nach Bosnien bringe. Ich will nicht mehr. Jeder, der kommt, sagt, ich habe alles für dich gemacht. Wäre die Tat in einem deutschen Bierkeller passiert, wäre der Notausgang offen gewesen. Dann sollen sie öffentlich sagen: Ihr Scheiß-Kanaken, ihr seid es nicht wert, beschützt zu werden!

Man kann offiziell anfragen, warum der Notausgang der Arena Bar an diesem Abend geschlossen war, und als Journalist bekommt man Antworten, in denen immer auf jemand anders verwiesen wird. Die Polizei sagt, man habe sehr wohl gemerkt, dass der Notausgang zu war, man habe es dem Gewerbeamt gemeldet, den offensichtlich illegal Beschäftigten im Laden dem Hauptzollamt Darmstadt. Das Gewerbeamt sagt, es sei für das Freihalten von Fluchtwegen nicht zuständig, verweist auf das Regierungspräsidium Darmstadt. Das Regierungspräsidium sagt, es sei zwar zuständig, habe aber zur Arena Bar keine Meldung erhalten. Das Hauptzollamt bestätigt den Erhalt der Meldung, ist aber für Notausgänge nicht zuständig.

Nach SPIEGEL-Recherchen leitete im November 2017 das Gewerbeamt ein Verfahren gegen den Betreiber ein, dem Mann sollte seine Gaststättenerlaubnis entzogen werden. Nachbarn hatten sich über Lärm und Drogen beschwert. Der Betreiber wehrte sich vor Gericht, erst im November 2019 verlor er doch noch seine Lizenz, setzte einen Pächter ein und blieb der Inhaber.

Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft Hanau, aber auch nur, weil Armin Kurtović, der trauernde Vater, eine Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung gegen unbekannt gestellt hat.

Es scheint in diesen Tagen so, als ob der Prozess in der Krämerstraße mehr nach Aufklärung suchte und Konsequenzen forderte als die Verantwortlichen in Hessen, die ihre Versäumnisse zur Tatnacht erst einräumten, als Angehörige und Überlebende nicht aufhörten, öffentlich Fragen zu stellen. Und egal wie oft sie fragen, sie werden das Gefühl nicht los, dass ihnen etwas verheimlicht wird. Und umso mehr sie diesen Eindruck bekommen, desto fremder fühlen sie sich in diesem Land.

Armin Kurtović ist vor 46 Jahren in Schweinfurt geboren, bei dem Gespräch mit dem Opferbeauftragten der Bundesregierung legte er seinen deutschen Personalausweis auf den Tisch und fragte: Was bringt der, wenn ich hier nicht behandelt werde wie ein Deutscher?

In der Krämerstraße fragen sie sich, warum sie nach der Tat auch noch behördlichen Rassismus erleben mussten. Warum im Bericht über die Leichenbesichtigung »orientalisches-südländisches Aussehen« genannt wurde, bei einem jungen Mann, der blond und blauäugig war, warum bei der Entnahme der DNA-Probe ein Dolmetscher mitgeschickt wurde. Warum die Polizei ihre Migrationsbeauftragte schickte, die Stadt den Ausländerbeirat, auch zu den Familien, die seit Jahrzehnten hier sind.

In den Monaten nach der Tat mussten sie in Fernsehinterviews hören, wie der CDU-Landtagabgeordnete Heiko Kasseckert forderte, die Bilder ihrer Kinder vom Brüder-Grimm-Denkmal zu entfernen, seine Begründung: Der Markplatz sei kein Tatort und die Brüder Grimm seien schließlich die berühmtesten Söhne dieser Stadt.

Sie sagen, es tue ihnen weh, ein Jahr nach der Tat zuzusehen, wie der hessische Landtag einen Hilfsfonds für Opfer von Straftaten verabschiedet, es aber nicht schafft, im Zweck »Rassismus« oder »Rechtsextremismus« zu benennen.

Çetin Gültekin: Seit 89 sterben und brennen hier Ausländer. Was haben wir gemacht? Keine einzige Scheibe ist runtergefallen. Mann, sind wir vernünftig, Mann! Irgendwann müssen wir doch mal ausrasten, sonst kommt doch wieder eine neue Stadt. Die Nazis denken, die Opfer sind ja anständige Menschen. Hanau muss die Endstation sein!

Armin Kurtović: Die wollen doch nur, dass wir das machen, Çetin, damit sie sagen können, das sind Tiere, sind kriminell. Die leben hier seit Generationen und haben sich immer noch nicht integriert.

In den Jahren bevor sie selbst ihre Kinder bekamen, mordeten Rechtsextreme in Mölln und Solingen, attackierten Menschen in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda. Ihre Kinder wurden junge Erwachsene, als die Mordserie des NSU bekannt wurde, sie sahen den Aufstieg der AfD.

In Hessen ist Volker Bouffier seit mehr als zehn Jahren Ministerpräsident. Sie sagen: Bei der Aufklärung der NSU-Morde stellte er sich vor einen Verfassungsschützer, der am Tatort war. Sie nennen ihn nach dem Treffen in Wiesbaden »den Joghurtmann«. Er habe ihnen bei ihrem Besuch in Wiesbaden Joghurt serviert und gesagt, er habe noch viel schlimmere Anschläge gesehen. Als sie fragten, warum die Familien so schlecht behandelt wurden

nach der Tat, habe er ihnen versprochen: Beim nächsten Mal machen wir es besser.

Armin Kurtović: Weißt du, was das Schlimme ist: Als er im Rathaus war und uns gegenübersaß, mit Tränen in den Augen, habe ich ihm geglaubt, was er gesagt hat ...

Dijana Kurtović: ... Es hätte mein Sohn gewesen sein können.

Armin Kurtović: Wie naiv wir waren. Er könnte doch sagen, Leute, eure Angehörigen sind tot, ich kann sie nicht zurückbringen, es tut mir leid, wir haben versagt, meine Behörden haben versagt, wir waren überfordert. Wir werden hieraus Lehren ziehen. Çetin, wir haben doch noch andere Kinder, muss denen auch noch was passieren?

Posting von Ferhat Unvar auf seiner Facebook-Seite, 2016:

1945 schrie ein Land »Mit uns nie wieder!« Plötzlich gibt's die AfD besorgte Bürger und Pegida (aus dem Lied »Kranke Welt« des Rappers Pillath.)

Serpil Unvar: Ferhat hatte recht mit seinen Sorgen. Wenn er sehen würde, was ich hier mache, würde er mich fragen: Mama, bist du bescheuert? Glaubst du wirklich, du kannst etwas verändern in diesem Land?

Bleiben

Serpil Unvar hat die »Bildungsinitiative Ferhat Unvar« gegründet und will gegen Rassismus an Schulen kämpfen.

Saida Hashemi hat in diesem Herbst ihr Examen bestanden, sie ist jetzt Lehrerin für Mathe und Geschichte, sie kandidiert für die SPD bei der Kommunalwahl.

Najiba Hashemi nimmt Deutschstunden. Sie will die Akte noch besser verstehen, ein Buch schreiben für Nesar.

Sedat Gürbüz hat ein Ehrengrab bekommen.

Ferhats Cousin Abdullah Unvar will in den Bundestag.

Etris Hashemi hat einen Schwimmkurs für Kinder geleitet, wie er es früher immer mit seinem Bruder Nesar getan hat.

Çetin Gültekin ist mit seiner Mutter und seinem Sohn aus Kesselstadt weggezogen. Er sagt, wenn Mert heiratet, kauft er einen Wohnwagen und fährt mit seiner Mutter durch Europa.

† Vili-Viorel Păun: Amulett

† Vili-Viorel Păun: Amulett

Milos Djuric / DER SPIEGEL

Iulia Păun hat wenige Wochen nach dem Tod von Vili versucht, schwanger zu werden. Die Păuns werden bald ein Kind adoptieren, sie wollen es Rareş nennen, der Name liegt, eingraviert in ein Amulett, über ihrem Fernseher, er bedeutet »selten«. Es ist der Name, den Vili seinem ersten Kind geben wollte.

Armin Kurtović will die Gewebeproben zurück, die seinem Sohn bei der Obduktion entnommen wurden. Er will sie bestatten, in Hanau.

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