Zum Inhalt springen
Fotostrecke

"Real Life Training": Ein Übungssupermarkt für Arbeitslose

Foto: Oliver Trenkamp

Training für Hartz-IV-Empfänger Arbeitslose spielen Kaufmannsladen

Aufblasbarer Plastikkäse, kopiertes Spielgeld, gefärbtes Wasser in Weinflaschen: Das Jobcenter Hamburg finanziert einen kompletten Supermarkt. Hartz-IV-Empfänger sollen dort wieder arbeiten lernen. Die simulierte Einkaufstour kostet Millionen - und hat bislang nur eine magere Erfolgsquote.

Hamburg - Eine Flasche Mirabellenbrand hält den Betrieb auf, die Scannerkasse erkennt sie nicht. Die Frau an der Kasse guckt fragend zu ihrem Ausbilder, dem Herrn Rothe. Die F7-Taste soll sie drücken, den Artikel eingeben, nochmal F7, dann den Preis, irgendwann die Taste F2. Und dann soll es weitergehen. "miraabellenbrand" wird später auf dem Kassenbon stehen, verkauft für 49,90 Euro. Ein Tippfehler beim Namen, nicht so wichtig, Hauptsache, der Preis stimmt.

Die Flasche ist leer.

Der Kunde heißt heute Markus Repschinski. Der 28-Jährige hat die leere Mirabellenbrandflasche gekauft. In seinem Einkaufswagen liegen außerdem eine leere Flasche Ouzo für 29 Euro und volle Packungen Cornflakes, Reis, Toffifee, Pedigree sowie eine Dose weiße Bohnen. Insgesamt sind es Waren für 129,13 Euro. Repschinski wird noch mehrere dieser Wagen zusammenpacken, wahllos, mal ist Katzenfutter dabei, mal Hundefutter, manchmal beides.

Er wird jeden Wagen vorbeischieben an der Kühltheke mit den aufblasbaren Käselaiben aus Plastik, vorbei an den leeren Plastikschalen "Nordseekrabben Natur", vorbei an den Weinflaschen mit gefärbtem Wasser. Auch vorbei an 6000 echten und gefüllten Kekspackungen, Konservendosen und Chipstüten, die hier in den Regalen liegen.

"Real Life Training" steht auf seinem Rücken, deswegen ist er hier: Das wahre Leben trainieren, in einem Übungssupermarkt mit angeschlossenem Lager. Es ist die erste Maßnahme dieser Art deutschlandweit. Arbeitslose sollen lernen, wie es ist, im Lager zu arbeiten, an der Supermarktkasse, im Großhandel. Früh aufstehen, pünktlich erscheinen, die Mütze ab, die Hände sauber, Arbeitszeiten ordentlich dokumentiert auf einer Stempelkarte, das ist die Idee; jede Woche knapp 40 Stunden, für sechs bis neun Monate. Betreut von sechs Sozialpädagogen und fünf Übungsleitern.

Betreutes Spielen

Wie fast an jedem Tag wird Übungseinkäufer Repschinksi allein heute mehr Geld ausgeben, als er im Monat zum Leben hat. Seit er nicht mehr als Lagerist arbeitet, lebt er von Hartz IV, also 359 Euro. Allerdings ist es nur Spielgeld, mit dem er hier bezahlt; Mini-Euroscheine und Plastikmünzen.

Es ist das größte Kaufmannsladenspiel Deutschlands - und das teuerste, organisiert vom TÜV Nord, bezahlt vom "Team Arbeit Hamburg". So nennt sich hier die Arbeitsgemeinschaft von Bundesagentur und Stadt (Arge), die sich darum kümmern soll, dass Hartz-IV-Empfänger wieder einen Job bekommen. Zwar will niemand sagen, wie viel die Aktion genau kostet. Doch der Geschäftsführer des TÜV-Nord-Schulungszentrums, Rainer Westerwelle, bestätigt, dass es mindestens ein einstelliger Millionenbetrag ist: "Darunter ist es nicht zu machen."

In Deutschland schicken Jobcenter-Mitarbeiter ihre Arbeitslosen zu Bewerbungstrainings und Fortbildungen, sie lernen Gabelstaplerfahren und Powerpoint. Selbst Speed-Dating mit potentiellen Arbeitgebern hat es schon gegeben. Niemand weiß so genau, wie gut das alles funktioniert. Sicher ist nur: Es kostet. Allein für die Weiterbildung von Hartz-IV-Empfängern zahlt die Bundesagentur für Arbeit 6,6 Milliarden Euro pro Jahr.

In Hamburg versuchen es TÜV und Arge jetzt mit einem "Aktivierungs-Center in Form einer Übungsfirma", wie der Supermarkt im Arbeitsagentur-Deutsch heißt, "wirklichkeitsnah und mit echter Ware". Der Unterschied zu einer überbetrieblichen Ausbildung: Es gibt keinerlei Abschluss, nur eine Teilnahmebestätigung, die so ähnlich formuliert werden soll wie ein Arbeitszeugnis. Wer nicht mitmacht, muss mit Sanktionen rechnen, also mit weniger Geld vom Amt.

"Man kann es nie allen recht machen"

Seit Oktober 2009 spielen deshalb Arbeitslose wie Repschinksi Kaufmannsladen - und einige kommen sich dabei ziemlich albern vor. "Beschäftigungstherapie", "reine ABM", "großer Quatsch", "entwürdigend", das sind Worte, die Teilnehmer über die Maßnahme sagen. "Das kann man auch einem Pavian beibringen", sagt einer während der Raucherpause. Viele wollen ihren Namen nicht in einem Bericht lesen; selbst ihren Freunden und Familien erzählen manche nicht, was sie tun.

Tag für Tag sortieren sie Waren im Lager, fahren mit Gabelstaplern Paletten durch die Halle, tragen Produktnummern in Kommissions- und Bestelllisten ein, tippen Buchungsnummern ins Computersystem und schieben vollgepackte Wagen von einem Raum in den nächsten. Ein Warenkreislauf auf 2000 Quadratmetern. Alle paar Wochen sollen die echten Lebensmittel ausgetauscht werden, ein echter Händler holt sie ab und verkauft sie weiter.

"Man kann es nie allen recht machen", sagt die Projektleiterin Ulrike Kügler. Einige Teilnehmer würden sich anfangs verweigern, schnell aber auf das Training einlassen. Sie sei fest davon überzeugt, dass es in ihrem Übungssupermarkt weniger Unzufriedene gibt als bei anderen Maßnahmen, mit denen Deutschland versucht, seine Hartz-IV-Empfänger wieder fit für einen Job zu machen.

Die Erfolgsquote ist eher mager

Und tatsächlich gibt es auch in der Einkaufssimulation in Hamburg-Steilshoop einige Arbeitslose, die sagen: Das ist besser als zu Hause rumzusitzen. Regla Ketty Morales Leverenz, 28, aus Kuba erzählt, dass sie hier viel gelernt habe und bereits zu Vorstellungsgesprächen eingeladen worden sei. Karolina Sieg, 26, sagt, sie habe für den Sommer bereits einen Ausbildungsplatz im Einzelhandel sicher und freue sich darüber, bis dahin an der Kasse trainieren zu dürfen.

Dort, an der Kasse, muss gerade ein Mann seine Einkäufe noch einmal bezahlen. Übungskassiererin Sieg hat vergessen, einen Blick in den Kontrollspiegel an der Wand zu werfen und zu überprüfen, ob der Kunde wirklich alle Waren auf das Band gelegt hatte. Damit es nicht zu stressig wird, sagt der Kunde jetzt "Karte", weil er bargeldlos bezahlen will. Das hat den Vorteil, dass Sieg kein Wechselspielgeld herausgeben muss. Die Kassiererin trägt den Betrag einfach in eine Liste ein; ein Kartenlesegerät gibt es nämlich noch nicht.

"Eine gute Möglichkeit, Menschen für Arbeit zu begeistern", nennt Projektleiterin Kügler das Programm - und sich selbst einen "harten Hund". Denn sie verteilt Abmahnungen und schmeißt die Leute, die sich überhaupt nicht auf die Maßnahme einlassen wollen, wieder raus: "Wir spielen hier freie Wirtschaft." Wer nicht mitspielt, fliegt.

Erfolgreich vermittelt wurden nach Angaben des TÜV-Schulungszentrums bisher 14 Arbeitslose, alle an Zeitarbeitsfirmen in der Lageristenbranche, allerdings noch keiner in den Einzelhandel.

Ist diese Quote nicht ein bisschen mager bei bisher 161 angemeldeten Teilnehmern, zumal einige schon vor der Maßnahme als Lageristen gejobbt haben?

Sowohl Arge als auch TÜV betonen, dass das Projekt auf zwei Jahre angelegt sei. Dass man schauen müsste, wie es sich weiterentwickelt. Dass manche Teilnehmer nur für einen Tag kommen und sich dann krank schreiben lassen. Dass es nicht nur um die Vermittlungsquote gehe, sondern auch darum, Lust und Mut zu vermitteln, einen Job anzunehmen. Dass es ein Pilotprojekt sei, das sich vielleicht auch für andere Bundesländer eigne. Dass es ganz bestimmt gelinge, auch in den Einzelhandel hinein zu vermitteln. Schließlich sei der Betrieb nah an der Realität. "Es ist kein Aktivierungszentrum, wo ich bunte Luft durch die Gegend trage", sagt Geschäftsführer Westerwelle.

Und bunt ist die Luft in der Mirabellenschnapsflasche tatsächlich nicht.