Es gibt Menschen, die erreichen bereits zu Lebzeiten musealen Charakter. Die sind, wo immer sie auftauchen, sofort Ausstellungsstücke einer vergangenen Epoche, an die man sich dann erinnert, ein bisschen gerührt natürlich, jedenfalls andächtig.


Kurt und Ingrid Biedenkopf gehören unbedingt zu diesen Menschen und dass man sie nur im Duo erzählen kann, ist natürlich auch gleich wieder Indiz für ihren Legendenstatus. Er, der frühere sächsische CDU-Ministerpräsident, ach was: Regent. Der Mann, der dieses Bundesland durch die Nachwendezeit steuerte. Und sie, die Frau, die dabei eben nicht nur stets die Frau an seiner Seite war, sondern Wert darauf gelegt hat, die Geschicke mitzubestimmen. "Als wir Ministerpräsident waren", der Satz von Ingrid Biedenkopf ist ja tatsächlich exakt so überliefert.

Seine Karriere war zu Ende, dann kam Sachsen


So gesehen ist es vielleicht ein bisschen voreilig, dass heute opulent Kurt Biedenkopfs 90. Geburtstag gefeiert wurde, im Beisein der Bundeskanzlerin in der Dresdner Frauenkirche, und in Gegenwart von allem, was im politkulturellen Sachsen Rang und Namen hat. Denn Ingrid ist ja erst 88, im Durchschnitt sind die Biedenkopfs also erst 89, den gemeinsamen durchschnittlichen 90. Geburtstag hätte man getrost auch nächstes Jahr noch feiern können. 
Andererseits gibt es im kommenden Jahr, oder zu Ingrids 90. im Jahr 2021, sicher eine weitere Party.

Das Interessante an den Biedenkopfs ist, dass ihnen etwas gelingt, das es in der Politik nur selten gibt, und das eben zeigt, dass sie wahrlich nicht alles falsch gemacht haben können: Die Zeit ihrer Regentschaft wirkt im Rückblick umso größer, je länger sie zurückliegt. In Sachsen gab es das eigentlich zuletzt bei August dem Starken.
 Als Kurt Biedenkopf, 1930 in Ludwigshafen am Rhein geboren, 1990 einen Anruf von Lothar Späth erhielt, dem damaligen CDU-Chef von Baden-Württemberg, war seine politische Karriere eigentlich schon zu Ende gewesen. Biedenkopf, lange Jahre Generalsekretär der Bundes-CDU, hatte sich mit Helmut Kohl überworfen, dem Kanzler, und in die Wissenschaft zurückgezogen.


Es war spät nachts, als Späth zu ihm sagte: Wir brauchen einen, der als Ministerpräsidentenkandidat in Sachsen antritt. Einen wie dich. Ob er bereit sei?
 Biedenkopf überlegte (nein: die Biedenkopfs überlegten). Eine halbe Stunde lang, so erinnert er sich. Dann habe man beschlossen: Wenn man so in die Pflicht genommen wird, kann man nicht kneifen!

Gekommen, um zu helfen - nicht befehlen

Die Biedenkopfs gingen nach Dresden und trafen, intuitiv, den richtigen Ton: Sie gaben nicht die überheblichen Wessis, im Gegenteil. Sie zogen in eine Art WG mit ihren Ministern, Ingrid als Haushaltsvorsteherin. Sie waren die Wessis, die die Sachsen vor den anderen Wessis beschützen. Von Beginn an nahm Kurt Biedenkopf sich vor, das Selbstbewusstsein seiner Bürger zu päppeln. Die Sächsische Zeitung zitiert ihn dazu so: "Ich bin damals freiwillig nach Sachsen gekommen, um zu helfen – nicht um zu regieren." Er sei nicht nach Sachsen gegangen, "um zu befehlen und Macht zu beanspruchen". Stattdessen erklärte er den Sachsen, warum es richtig sei, dass sie stolz auf sich sind. Und warum sie sich vom Westen nicht alles vorschreiben lassen sollten. Den Ost-Diskurs von heute um Selbstbewusstsein und Heimatgefühl hat Biedenkopf im Grunde vorweggenommen.


Ja: Die Sachsen wurden selbstbewusst in der Ära Biedenkopf. Dieses Volk, das sowieso sehr viel auf seine königlichen Wurzeln hält, wurde stolz und stolzer. Und dankte es ihm, Kurt, indem es ihn zu "König Kurt" erklärte, ein Kosename, der nur ein bisschen spöttisch gemeint war, vor allem aber bewundernd: Biedenkopf wurde der Mann, der in diesem Freistaat über den Dingen schwebt. Ein Sachse, der jemanden König nennt, macht keine Witze.

Biedenkopfs Erbe und die AfD


Was Biedenkopf mit seiner Methode schuf, ist ambivalent: Einerseits ein Sachsen, das, im Vergleich zu den anderen ostdeutschen Bundesländern, vielleicht erhobeneren Hauptes durch die Nachwendezeit kam, viele Rückschläge einfach wegsteckte, ziemlich protestantisch, stoisch weitermachte, wo mancher im Westen längst verzweifelt wäre. Biedenkopf schuf in Sachsen eine Wirtschaft, eine Infrastruktur, die anderswo in Deutschland neidvoll gesehen wird.

Andererseits kleisterte die Biedenkopf-Mentalität auch alle gesellschaftlichen Brüche zu: Es gab in seiner Zeit wenig Debatten über Rechtsextremismus, über Demokratie, über die grundsätzliche Zufriedenheit mit dem System. Die Welt lief einfach vor sich hin, weil Biedenkopf alles überstrahlte. Was scheren uns Befindlichkeiten, wenn wir unsere Königs haben.


Als Biedenkopf ging, sah man die Brüche. Dass in Sachsen heute mehr AfD gewählt wird als anderswo, dass hier Pegida stark wurde, das ist gewiss nicht die Schuld der Biedenkopfs, aber es hat schon etwas mit dem Vakuum zu tun, das sie hinterließen. Und mit dem von ihnen aufgepumpten sächsischen Stolz, der sich manchmal auch die falschen Kanäle sucht. Vor allem dann, wenn die Sachsen das Gefühl bekommen, dass niemand sie beachte.


Unbestritten bleibt die Wucht von Biedenkopfs politischen Erfolgen. Die Leuchtturmpolitik seiner Zeit mag heute nicht mehr modern erscheinen, aber die Ansiedlungen großer Konzerne, die Biedenkopfs Regierung anleierte, sorgten ja erst für den Boom von Städten wie Dresden oder Leipzig. Entwicklungen, von denen Magdeburg oder Rostock bis heute nur träumen können. Und wo wir heute richtigerweise kritisieren, dass es zu wenig Ostdeutsche in Führungspositionen gibt, galt damals auch: Ein Westdeutscher wie Biedenkopf, mit seiner Expertise in bundesdeutschen Politikfragen, konnte manches Problem geschickter lösen als die teils unglücklich agierenden Ostdeutschen, die gleich nach 1990 in anderen Bundesländern Regierungschefs wurden.


Freilich machte in all der Zeit auch Ingrid ihre Arbeit. "Ich habe versucht, den Menschen zu helfen, da war ich sehr erfolgreich", sagte sie im Oktober 2017 in einem großen Gespräch der beiden mit der ZEIT. "Zu Zehntausenden haben sich die Leute in Briefen an mich gewandt mit Sorgen und Problemen."


Und Kurt ergänzte: "Du schätzt heute, dass du in unserer Amtszeit 2.000 bis 3.000 Fälle von Bürgeranliegen bearbeitet hast, jedes Jahr. Das sprach sich herum: Wenn man im Büro Ingrid Biedenkopf anruft, kriegt man einen nützlichen Kontakt, die kann einem helfen."

Ingrid dazu: "Schön fand ich es, dass sie dich Landesvater, mich Landesmutter genannt haben! Sie wollten sogar, dass wir König werden." Dass man ihn "König Kurt" nannte, sagte Biedenkopf, habe er sich jedoch niemals zu eigen gemacht.