Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 46/2022.

Als der Kapitän der Gulf Livestock 1 gerade dabei ist, sein Frachtschiff mit 43 Mann und 5867 Kühen an Bord in der endlosen Dunkelheit des Pazifiks mitten durch einen Taifun zu steuern, blinkt 10.000 Kilometer entfernt, in einer Neubauwohnung im nordrhein-westfälischen Uerdingen, ein Handy auf. Es ist eine Nachricht auf WhatsApp, sie kommt direkt von der Gulf Livestock.

Sag nichts der Mama aber unser Engine Control Raum hat sich soeben mit Wasser gefüllt und Motor ist jetzt ausgefallen.

In der Neubauwohnung in Uerdingen nimmt Jens Orda sein Handy, liest. Er ist Anfang 30, die Nachricht hat ihm sein jüngerer Bruder Lukas geschickt. Jens Orda tippt sofort eine Antwort.

Ist sowas schlimm?

Es ist der 1. September 2020, 12.19 Uhr, mittags, deutsche Zeit.

Lukas schreibt: Keine Ahnung..... aber wir haben über 100km/h Wind und mehr als 10m Wellen und können nicht lenken....

Lukas Orda ist 25 Jahre alt und arbeitet als Tierarzt auf der Gulf Livestock, er kümmert sich um die Kühe. Die Besatzung soll sie von Neuseeland nach China bringen. Die Chinesen haben die Tiere zur Zucht eingekauft.

Als Lukas Orda seine Nachrichten sendet, befindet sich der Frachter im Ostchinesischen Meer. Dort ist es später Abend. Kein anderes Schiff ist weit und breit in der Nähe, sie alle sind dem Taifun eilig ausgewichen. Nur die Gulf Livestock 1 ist genau dort, wo der Sturm am tödlichsten ist. Einsam und angeschlagen kämpft sie gegen ihn an.

Lukas Orda schreibt an seinen Bruder: Die Wellen hören sich an wie Donner wenn die das boat treffen.

Um 14.28 Uhr deutscher Zeit schickt Lukas ein Video, er hat es von der Kommandobrücke aus aufgenommen: Wellen türmen sich vor dem Schiff auf, sie schlagen auf den Bug ein. Der riesige Frachter, 139 Meter lang, Tausende Tonnen schwer, ächzt von einer Seite zur anderen. Nach 18 Sekunden bricht das Video ab.

Auch Stunden später hat Jens Orda nichts mehr von seinem kleinen Bruder gehört. Er schreibt ihm: Sag mal was... werd schon ganz nervös.

Sein Bruder antwortet nicht.

Am nächsten Mittag, sagt Jens Orda heute, habe seine Mutter angerufen: Das Schiff, auf dem der Lukas ist, ist verschwunden.

An jenem 2. September 2020 versinkt für 41 Familien ein Leben, und ein neues beginnt, eines ohne den Bruder, den Sohn, den Ehemann, den Vater. Zwei Männer werden aus den Fluten gerettet, ein dritter wird tot gefunden. Die anderen 40 sind bis heute verschollen, auch Lukas Orda.

Die Gulf Livestock 1 wurde, noch unter einem anderen Namen, in Deutschland gebaut. Eine deutsche Firma hat sie zuletzt gemanagt. Dennoch hat ihr Schicksal hier kaum für öffentliches Interesse gesorgt. Die wenigsten machen sich große Gedanken über diese fremde Welt da draußen, das Meer ist Urlaub und Strand und Sonne und Eis, kein Ort der Arbeit und Ausbeutung.

Eine Rettungsweste, die am 4. September 2020 in der Nähe des Unglücksorts gefunden wurde. © Japan Coast Guard, 10th Regional Coast Guard Headquarters/​Getty Images

Die globale Schifffahrt ist der Motor des Kommerzes im 21. Jahrhundert. Mehr als 90 Prozent aller Güter werden auf Schiffen rund um den Globus getragen, der Transportweg über See ist schnell, effizient, günstig. Die Eigner bedienen sich aus einem schier unerschöpflichen Pool von Arbeitskräften, die in kleinen Crews auf riesigen Frachtern für niedrige Löhne endlose Stunden schuften. Nur auf diese Weise ist es möglich, dass T-Shirts aus Bangladesch für fünf Euro in europäischen Kleidungsgeschäften landen, Handys aus China für 200 Euro in Elektronikfilialen, Bananen aus Kolumbien für 99 Cent in Discounterregalen. Oder Milchkühe aus Neuseeland nach China exportiert werden.

Es ist eine unbekannte Welt, in die die Recherche zum Untergang der Gulf Livestock 1 führt. Eine Welt, in der alle paar Tage ein größeres Schiff verloren geht, 892 waren es in den vergangenen zehn Jahren, sie sinken, brennen, kollidieren. Eine Welt, in der all diese Unglücke selten ernst zu nehmende Ermittlungen nach sich ziehen und die Wahrheit so für immer verborgen bleibt. Eine Welt, in der Waren oft besser versichert sind als Menschen und Vorschriften kaum durchgesetzt werden. Eine Welt, in der ein Schiff wie die Gulf Livestock mit 43 Männern und 5867 Kühen an Bord untergeht und die andere Welt, die Welt an Land, kaum etwas davon mitbekommt.

Ende Juni 2020, zwei Monate vor dem Untergang, besteigt Lukas Orda im Hafen von Portland im Süden Australiens die Gulf Livestock 1. Ein Bekannter hat ihm rund zwei Wochen zuvor von der Möglichkeit erzählt, auf einem Viehtransporter anzuheuern. Als studierter Tierarzt könne er da gutes Geld verdienen und ein bisschen was erleben. Lukas Orda hat noch nie auf einem Schiff gearbeitet. Aber er hat Zeit zu überbrücken. Im Herbst soll er in einer Tierarztpraxis anfangen, bis dahin hat er frei. Er sagt zu.

Lukas Orda hat einen Plan. Er will für ein paar Wochen auf dem Frachter arbeiten, die Tiere umsorgen und sich dann mit dem Geld einen Traum erfüllen: ein Haus für ihn und seine kleine Familie. Im Februar ist er zum ersten Mal Vater geworden, Theo, 3960 Gramm leicht, 57 Zentimeter klein.

Zwei Jahre später ist Theo ein paar Kilo schwerer, ein paar Zentimeter größer, ein Junge mit rötlichem Haar und Spider-Man-Pullover, er rennt durch den Garten seiner Großeltern, einem Welpen hinterher, lacht, bleibt stehen, sieht die Schaukel, vergisst den Hund. Jetzt will er schaukeln.