Die Kahlwerdung des Mannes – Seite 1

Zu Beginn ein Trost für alle Männer, deren Köpfe mehr oder weniger kahl sind: Egal ob lockig, stoppelig oder glatt, rein evolutionär ist das Deckhaar ohnehin einigermaßen sinnlos. Haare kleben verschwitzt am Hinterkopf, müssen ständig gekämmt, gewaschen und sogar geföhnt werden. Sie schwimmen in der Suppe oder sammeln sich im Duschsieb, bis das Wasser nicht mehr abläuft.

Dass die meisten Männer früher oder später eine Glatze bekommen, ist also ein großes Geschenk. Oft vermissen sie aber ihre Haare, wenn sich die Geheimratsecken immer weiter voranfressen. Sie fragen sich, warum gehen mir die Haare aus? Sind es meine Gene? Oder die falsche Pflege? Was jetzt?

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30 Prozent der 30-Jährigen haben mindestens eine Halbglatze

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann in seinem Leben mindestens eine Halbglatze bekommt, ist hoch: 30 Prozent der weißen Männer sind bereits mit 30 Jahren betroffen. Mit 50 Jahren ist es schon die Hälfte. Und mit 70 Jahren hat nur noch jeder fünfte Mann keinerlei Anzeichen von Haarausfall (Expert Reviews in Molecular Medicine: Ellis et al., 2002). Anfangs verschiebt sich der Haaransatz nach hinten, langsam verschwindet das Haar am Scheitel und auf der Kopfkrone. Manchmal geht es danach nur vorne weiter, während hinten das Deckhaar noch voll ist. Oder es bleibt ein mehr oder weniger breiter Kranz rund um den Kopf übrig. Und manchmal überhaupt nichts. Um den Haarverlust möglichst genau zu beschreiben, eignet sich das Hamilton-Norwood-Schema. Sieben – für die Vorstellungskraft mancher Männer schmerzhafte – Kategorien sind es vom vollen Haar bis zur Platte. Wer schauen möchte, klicke hier.

Testosteron – gut oder böse?

Wer die verschiedenen Schritte der Kahlwerdung beobachten will, kann das am Beispiel von Bruce Willis bei einem Stirb-Langsam-Filmabend tun. Noch im ersten Teil der Reihe hat der Schauspieler ordentlich Haare auf dem Kopf, spätestens bei Stirb Langsam 4.0 aber glänzt die polierte Vollglatze. Könnte das Hormon dahinterstecken, von dem Willis anscheinend eine ganze Menge hat? Testosteron soll vermeintlich für seine Muskelpakete, seine tiefe Stimme und seine Heldentaten mitverantwortlich sein.

Nicht der Schauspieler Bruce Willis, aber gleiches Phänomen, vielleicht eindrücklicher: der Tennisspieler Andre Agassi. Zwischen den Bildern liegen 24 Jahre. © Bob Martin/​Clive Brunskill/​Getty Images

Stimmt aber nicht ganz. Das bekannteste männliche Sexualhormon ist selbst nicht verantwortlich, sondern sein aktives Stoffwechselprodukt Dihydrotestosteron, kurz DHT. Je mehr Testosteron in DHT umgewandelt wird, desto schneller beginnt der Haarausfall – wenn Mann die genetische Disposition dazu besitzt. Und bei der häufigsten Form des Haarausfalls – der Androgenetischen Alopezie – reagieren die Haarfollikel empfindlicher auf Dihydrotestosteron. Dort wo in der Kopfhaut neue Haare sprießen, hemmt DHT ihr Wachstum. Der Follikel schrumpft, wird mit weniger Nährstoffen versorgt und am Ende wächst gar nichts mehr. Reguliert wird das alles von einem Enzym namens 5α-Reduktase (Indian Dermatology Online Journal: Mysore, 2012). Ohne dieses Eiweiß bleibt dem Mann das Haupthaar erhalten (Science: Imperato-McGinley et al. 1974).

Die Gene sind entscheidend

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80 Prozent der 70-Jährigen kaukasischer Herkunft haben eine Glatze oder Halbglatze

Entscheidend dafür, wer wann eine Glatze bekommt, ist also, wie aktiv 5α-Reduktase ist sowie die Zahl der Rezeptoren, an denen DHT am Follikel andocken kann (Journal of Endocrinology: Hibberts et al., 1998). Beides ist stark genetisch bedingt. So bekommen weiße Männer häufiger eine Glatze als Männer mit asiatischen, indoamerikanischen oder afrikanischen Wurzeln (Journal of the American Academy of Dermatology: Olsen et al., 2005). 

Auch wer klein ist, scheint häufiger eine Glatze zu bekommen. Das zeigt eine Studie (Nature Communications: Heilmann-Heimbach et al., 2017), die das Erbgut von mehr als 20.000 Männern europäischer Herkunft mit und ohne Haar untersuchte. An 63 Orten im menschlichen Genom konnte das Forscherteam Genvarianten ausmachen, die mit dem Risiko eines frühzeitigen Haarausfalls einhergehen. Einige dieser Gene waren auch mit einer geringeren Körpergröße verbunden. Kleine Männer sollten sich dennoch nicht sorgen, so der Mitautor Markus Nöthen, Direktor des Instituts für Humangenetik der Universität Bonn. Wer klein ist, hat nur ein geringfügig erhöhtes Risiko. Denn die Ursachen der Glatzenbildung sind dann doch vielfältiger, als eine statistische Häufung es vermuten lässt.

Der Kahlschlag stresst gewaltig

Ist sie erst einmal da, sorgt die Glatze für Stress. Männer, die im Begriff sind, kahl zu werden, fühlen sich im Schnitt weniger attraktiv, weniger liebenswert und weniger erfolgreich. Bis in die Neunzigerjahre hinein wiesen Studien darauf hin, dass glatzköpfige Männer auch genauso wahrgenommen werden (Clinical Dermatology: Moerman, 1988). Probanden bewerteten Männer mit Glatze auf Fotos beispielsweise als älter und weniger begehrenswert als gleichaltrige, ähnlich aussehende Herren mit vollem Haar (Journal of Applied Social Psychology: Cash, 1990). Inzwischen ist klar: Ganz so einfach ist es nicht. Nachgewiesen ist lediglich, dass Männer mit Glatze älter wirken. Zwei US-amerikanische Forscher wollen sogar belegt haben, dass Männer mit Glatze als weise, reif und sanft wahrgenommen werden (Ethology and Sociobiology: Muscarella und Cunningham, 1996). Die Halbglatze oder Glatze ist ein Zeichen von sozialer Reife und von Fürsorglichkeit. Klingt nicht unattraktiv. 

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10,11 Kilogramm mehr traut man Männern mit abrasierter Glatze beim Bankdrücken zu

Eindeutig sind diese Hinweise nicht. Denn manchmal werden kahle Männer auch anders wahrgenommen, etwa wenn sie sich bewusst die Haare abrasieren. Sie werden mächtiger, männlicher, stärker und größer eingeschätzt als ihre behaarten Kollegen. Die eher dürftige Studiengrundlage hierfür: Fotos von vier Männern, jeweils einmal mit ihrem natürlichen Haar und einmal per Software kahl geschoren, die von 344 Probanden beurteilt wurden. Die Glatzenträger erschienen ihnen im Durchschnitt mehr als zwei Zentimeter größer und deutlich stärker. Die Probanden trauten ihnen zu, an der Hantelbank über zehn Kilo mehr zu stemmen (Social Psychological and Personality Science: Mannes, 2012). Laut Albert Mannes, der die Studie durchgeführt hat, ist es wichtig, dass das soziale Umfeld die Glatze als eigene Entscheidung wahrnimmt. Ihr Träger grenzt sich von der sozialen Norm ab. Das macht Eindruck.

Das Geschäft mit der Glatze

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43 Pflegeprodukte gegen Haarausfall führt ein durchschnittlicher deutscher Drogeriemarkt im Sortiment

Dennoch wollen sich viele nicht kahl rasieren, sondern sehen, dass auf ihren Geheimratsecken endlich wieder Haare sprießen. Und dafür nehmen sie vieles in Kauf. Beispielsweise die vermeintlichen Wunderwässerchen aus dem Drogeriemarkt: mit schwarzem Pfeffer, Ginkgo, Aloe Vera, Sanddorn, Koffein und einer Vielzahl mehr angereichert. Die Wirkung des Haartunings ist aber mindestens umstritten. Studien, die den Erfolg bestätigen, werden meist von den Kosmetikherstellern selbst finanziert und auch durchgeführt.

Das Salben der betroffenen Stellen hat übrigens eine lange Tradition. Schon die alten Ägypter empfahlen für kahle Stellen eine Kur aus den gezupften Stacheln eines Igels, eingelegt in einer Mischung aus Honig, Alabaster und rotem Ocker. So beschreibt es Kerry Segrave in seinem Buch Baldness. A Social History.

Und vielleicht hatten auch die alten Ägypter schon verstanden: Aus den verzweifelten Blicken, die kahle Männer in den Spiegel werfen, lässt sich ein Geschäft machen. Heute fließen jedes Jahr Millionen in den Wunsch nach vollem Haupthaar. Eines der meistverkauften Mittel ist Minoxidil, das für drei Monate 50 Euro kostet. Die Wirksamkeit des Mittels, das als Schaum oder Lösung zweimal täglich auf die Kopfhaut aufgetragen wird, bestätigen Studien (Journal of the American Academy of Dermatology: Olsen et al., 2002).

Dann doch Transplantation?

Wirksamer ist das zweite zugelassene Medikament: Finasterid (Dermatology: Arca et al., 2004). Der Hemmstoff der synthetischen Steroide blockiert die Umwandlung des Sexualhormons Testosteron in Dihydrotestosteron. Das Medikament wurde ursprünglich bei der gutartigen Vergrößerung der Prostata verschrieben. Und als Nebenwirkung wuchsen die Haare der Patienten – ein Glück für alle Haarlosen, für die das Mittel seit 1997 in einer geringeren Dosis von einem Milligramm ebenfalls zugelassen ist.

Wären da nicht die Nebenwirkungen. Die Tablette, die täglich geschluckt werden muss, führe zu Depressionen, Libidoverlust und irreversiblen Potenzstörungen, bemängeln Kritiker. Bei Probanden, die bereits zu depressiven Stimmungsschwankungen neigten, verstärkten sich diese mit der Einnahme des Medikaments (BMC Clinical Pharmacology: Rahimi-Ardabili et al., 2006). Fälle von Libidoverlust und möglicherweise dauerhafter Impotenz traten ebenfalls auf (PeerJ: Kiguradze et al., 2017). Es ist allerdings unklar, ob die betroffenen Männer bereits vor der Einnahme gefährdet waren. Zudem spricht die britische Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Arzneimittel (MHRA) von seltenen Brustkrebsfällen nach der regelmäßigen Einnahme von einem Milligramm und – etwas häufiger – von fünf Milligramm Finasterid (MHRA Public Assessment Report: The risk of male breast cancer with finasteride, 2009, PDF). Dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zufolge aber gibt es zum Einnahmerisiko noch keine langfristigen Erkenntnisse (BfArM: Core Safety Profile, 2014, PDF).

"Dass Langzeitstudien fehlen ist besonders gravierend, da das Medikament dauerhaft eingenommen werden muss, um gegen Haarausfall wirksam zu sein. Leider ist die vernünftige Risiko-Nutzen-Abschätzung so überhaupt nicht möglich", sagt der Bremer Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske. "Meine Empfehlung wäre, dieses Mittel, das in den hormonellen Kreislauf eingreift, nicht zu nehmen. Lieber macht man es so wie Jürgen Klopp und lässt sich Haare einpflanzen."

Brusthaar als Kopfhaar

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635189 Haartransplantationen wurden 2016 weltweit durchgeführt. Und damit 60 Prozent mehr als noch 2014

Der Fußballtrainer Jürgen Klopp hatte sich 2013 Haare auf seine Geheimratsecken transplantieren lassen. Die modernsten Haartransplantationen werden nach der FUE-Methode – der Follicle Unit Extraction – durchgeführt. Ein Chirurg entfernt dabei ein bis vier Haarfollikel mit einer Hohlnadel aus der Kopfhaut und verpflanzt sie anschließend auf die haarlosen Stellen. Ebenfalls beliebt ist die Streifenmethode, bei der ein behaarter Hautstreifen am Hinterkopf herausgeschnitten und in kleine Hautteile zerteilt wird, die einzeln eingesetzt werden. Das klingt brutal und sieht blutig aus, scheint bislang aber mit relativ wenigen Risiken verbunden zu sein (Clinical, Cosmetic and Investigational Dermatology: Rose 2015). Stimmt die Haarqualität, ist ein erfolgreiches Ergebnis nicht unwahrscheinlich. Es können sogar Körperhaare verwendet werden, besonders Bart- und Brusthaar (Indian Dermatology Online Journal: Saxena und Savant, 2017). Sie sollten aber nicht unbedingt direkt nach vorne verpflanzt werden, weil sie anders aussehen und die Illusion des Eigenhaars dann nicht gelingt.

2016 wurden laut der International Society of Hair Restoration Surgery genau 635.189 Haartransplantationen durchgeführt, die meisten nach der FUE-Methode. Die Zahl stieg damit seit 2014 um 60 Prozent. Rund 80.000 Operationen wurden in Europa durchgeführt, mehr als doppelt so viele in Asien. Für den Geldbeutel ist eine solche Operation schmerzhaft. In Deutschland liegen die Preise zwischen 2.500 Euro und 11.500 Euro, je nach Anzahl der Follikel, die verpflanzt werden sollen.

Und wer all das nicht mag, wem die Transplantation zu kostspielig und die Medikamente zu nebenwirkungsreich sind, für den bleibt nur ein uralter Trick. Den kannte schon Julius Cäsar, und er ist bis heute nicht modisch geworden: Sich mit einem Kamm und ein wenig Pomade die langen Haare des Nackens sorgfältig in die Stirn zu streichen.