"Zu dämlich" gegen die AfD – Seite 1

Manchmal werden Skandale groß, weil sie besonders gut in ein Bild zu passen scheinen. Der Skandal, der den Freistaat Sachsen seit zwei Tagen im Griff hat, erfüllt auf den ersten Blick alle Erwartungen – vor allem die Erwartungen jener, die diesem Bundesland sowieso nicht viel Gutes zutrauen. Die Geschichte ging ungefähr so: Der Präsident des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV), Gordian Meyer-Plath, verliere seinen Job, weil er allzu eifrig gegen die AfD habe vorgehen wollen. Das Dresdner Innenministerium als zuständige Aufsichtsbehörde habe ihn immer wieder aufgefordert, Daten von AfD-Abgeordneten zu löschen, anhand derer Meyer-Plath der AfD extremistische Bestrebungen nachweisen wollte. Meyer-Plath habe die Löschung dieser Daten verweigert. Deshalb werde er gefeuert.  

In dieser Geschichte steht also ein Verfassungsschutzchef als Held im Kampf gegen den Rechtsextremismus da, und ein Ministerium steht da als Behörde von Bremsern, die diesen Kampf, das schwingt darin mit, offenbar lieber nicht führen wollte. Das Sachsen-Klischee, man könnte es besser nicht erfüllen: ein Land, auf dem rechten Auge blind? 

Ist die Sachsen-Verschwörung perfekt?

Aus diesem Grund sitzt Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU), ein Politiker, der seit Jahren eine eher unglückliche Figur macht, am Donnerstag mit sehr rotem Kopf und etwas schweißfeuchter Stirn in einem Pressekonferenzraum seines Ministeriums. Neben ihm: der Mann, den er soeben zu Sachsens neuem Verfassungsschutzchef ernannt hat, Dirk-Martin Christian. Den beiden gegenüber: Dutzende Reporter. Christian, ein Jurist, war zuletzt Referatsleiter Verfassungsschutz im Innenministerium gewesen, also Chef jenes Referats, das die Fachaufsicht über das Landesamt für Verfassungsschutz innehat. Er war somit, und das macht die ganze Geschichte erst recht delikat, der Vorgesetzte, der Meyer-Plath in der Vergangenheit immer wieder, erfolglos, zur Löschung der AfD-Daten aufgefordert habe. Damit wäre die Sachsen-Verschwörung ja perfekt: Man macht den, der den Kampf gegen die AfD blockierte, zum Nachfolger von dem, der gegen die AfD vorgehen wollte? 

Aber so einfach ist es nicht, und das hat sich schon im Vorfeld dieser Pressekonferenz abgezeichnet. Es geht vielmehr um einen sensiblen juristischen Streit, in dem das letzte moralische und politische Urteil noch nicht gesprochen ist. In dem Sachsens Innenministerium aber zumindest nicht ganz so schlecht dasteht, wie es die 24 Stunden zuvor den Anschein hatte. 

Die Frage, die das Zentrum von allem bildet, ist die, wie weit Verfassungsschützer gehen dürfen bei der Beobachtung von Parlamentariern – nicht nur denen der AfD. Und wie groß die Pflicht von Verfassungsschutzämtern ist, sich zu rechtfertigen, wenn sie Daten erheben über AfD-Abgeordnete. 

Deshalb führte Roland Wöller am Donnerstag auf der Pressekonferenz ausgerechnet Bodo Ramelow ins Feld. Thüringens linker Ministerpräsident hatte sich über Jahre durch alle Instanzen geklagt, weil der Verfassungsschutz ihn beobachtete. 2013 gab das Bundesverfassungsgericht Ramelow recht. Aus diesem Urteil, sagt nun Wöller, ergebe sich, dass Abgeordnete besonders geschützt seien – und ihre Beobachtung sowie die Speicherung von Erkenntnissen über sie nur dann in Betracht komme, wenn es "klare Anhaltspunkte" gebe, dass diese Abgeordneten ihr Mandat zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung missbrauchten. Eine bloße Parteimitgliedschaft reiche nicht aus. Man brauche mehr. 

Und hier habe, wenn man Wöller glauben mag, das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz unter der Leitung ihres alten Präsidenten versagt. 

Das Landesamt habe Daten rechtswidrig gespeichert, sagt Wöller

Die Parlamentarier, um deren Daten es in der Affäre geht, sind nach Informationen der Chemnitzer Freien Presse vier Landtags-, ein EU- und zwei Bundestagsabgeordnete, darunter angeblich auch der AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla. Sachsens Verfassungsschutz, so Wöller, sei es in der Vergangenheit nicht gelungen, konkret zu belegen, inwiefern diese AfD-Abgeordneten gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gekämpft hätten. Der Nachweis müsse, solange es sich lediglich um einen Prüffall handelt, aus öffentlich zugänglichen Quellen erbracht werden, also etwa aus Parlamentsreden, Zeitungsinterviews oder Facebook-Einträgen. Aber, so Wöller: Das Landesamt habe nie geliefert. "Diese Anforderungen wurden vom LfV verletzt", sagt der Minister. Und: "Das betone ich ausdrücklich, weil die Behörde Daten über frei gewählte Abgeordnete rechtswidrig gespeichert hat." 

Während das Innenministerium in den vergangenen Monaten immer wieder Beweise verlangte, war Gordian Meyer-Plath, der abgesetzte LfV-Präsident, offenbar der Ansicht, dass schon bestimmte potenziell umstürzlerische Meinungsäußerungen von AfD-Parlamentariern eine Datensammlung über sie rechtfertigen könnten. Wöller und sein neuer Verfassungsschutz-Chef Dirk-Martin Christian finden das erkennbar absurd. Was sie nun versuchen, ist nicht weniger als eine komplette öffentliche Demontage Meyer-Plaths. 

"Der Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus sind die derzeit größte gesellschaftliche und sicherheitspolitische Herausforderung im Freistaat Sachsen und auch in Deutschland", sagt Wöller. Aber sein Landesamt hält er offenbar nicht hinreichend gut aufgestellt, um diesen Kampf zu führen: Dessen mangelhafte "Analysefähigkeit" kritisieren Wöller und Christian unisono. Zumal die Arbeit des Verfassungsschutzes, so Wöller, nur "auf dem Boden des geltenden Rechts" stattfinden könne. Dazu sagt Christian: "Hier sehe ich grundsätzlichen Optimierungsbedarf im Amt für Verfassungsschutz Sachsen." Er spricht von "Defiziten im LfV", der in seiner "Berichterstattung aktueller werden" müsse. Wöller sagt: In der Gesamtschau habe sich für ihn ergeben, dass das Landesamt eine Amtsführung brauche, die sich an Recht und Gesetz hält. Und Christian: "Man kann nicht die Verfassung schützen und selbst Verfassungsbruch begehen." 

Man kann das, ganz kurz, so zusammenfassen: Ein sächsischer Innenminister betrachtet seinen eigenen Verfassungsschutz offenbar als unfähig, vernünftige Recherchen über rechtsextremistische Bestrebungen anzustellen. Er glaubt wohl überdies, dass dieser Verfassungsschutz aus seiner eigenen Unfähigkeit heraus keine Beweise liefern konnte, anhand derer man die AfD legitimerweise zum Beobachtungsobjekt hätte erklären können. Denn, so kann man sowohl Wöller als auch seinen neuen Verfassungsschutzchef Christian verstehen: Die beiden halten Sachsens AfD durchaus für ein mögliches künftiges Beobachtungsobjekt. Und sie wissen auch, dass etwa das Brandenburger Landesamt für Verfassungsschutz in der Lage war, Beweise beizubringen, die eine Beobachtung der Partei in diesem Bundesland legitimierten. "Wir müssen jetzt dicke Bretter bohren", sagt Christian. 


Warum erst jetzt?

Gesetzt den Fall, dass man Wöller und Christian all diese Beteuerungen glauben kann, bliebe trotzdem noch diese Fragen: Wenn Sachsens Innenminister, der immerhin seit zweieinhalb Jahren im Amt ist, wirklich ein derart schlechtes Bild von seinem eigenen Landesamt für Verfassungsschutz hat – wieso hat er dann so lange gebraucht, um den Chef dieser Behörde auszutauschen? Und hätte er auch so öffentlichkeitswirksam über diese Defizite geschimpft, wenn nicht die Sächsische Zeitung am Mittwoch mit einer Enthüllungsgeschichte über den Zwist zwischen Meyer-Plath und dem Innenministerium erschienen wäre? Tatsächlich hat sich Gordian Meyer-Plath, der bisherige LfV-Präsident, in den vergangenen Jahren nicht gerade hervorgetan mit seiner Arbeit gegen den Rechtsextremismus, mit dem Sachsen, wie andere Ostländer, immer noch ein besonderes Problem hat. Wöller sagt, er habe den Wechsel an der Amtsspitze schon lange vorgehabt. 

Die sächsische Linken-Abgeordnete Kerstin Köditz sagte am Donnerstag, sie sei durchaus überrascht von Wöllers Aussagen. "Demnach", so Köditz, "war das Landesamt für Verfassungsschutz zu dämlich, gegenüber dem Innenministerium zu begründen, weshalb es Daten von AfD-Abgeordneten speichern muss." 

Politisch entlastet sei der Innenminister, den in den vergangenen Wochen schon eine Affäre um geklaute Fahrräder bei der Leipziger Polizei fast den Job gekostet hätte, aber längst nicht. "Denn er ist", so Köditz, "für das Landesamt verantwortlich und sieht seit Jahren dabei zu, wie es beim Kampf gegen Rechts herumstümpert." Dass der entlassene Präsident Gordian Meyer-Plath ein engagierter Kämpfer gegen die extreme Rechte sei, "habe ich übrigens noch nie geglaubt und tue das auch jetzt nicht."