Dieser Artikel ist Teil des ZEIT-ONLINE-Schwerpunktes "Unheimlich schön" aus dem Ressort X. Eine Auswahl weiterer Schwerpunkte finden Sie hier.

Die Entdeckung

An den Moment, als Ellen Berscheid der Macht der Schönheit begegnete, erinnert sie sich so: Es war das Jahr 1969, Berscheid war Mitte 30, Forscherin an der Universität von Minnesota. Sie saß in der Bibliothek, einen Stapel Papier vor sich, die Studie einer Doktorandin namens Karen Dion. Als sie die Ergebnisse sah, konnte sie es erst nicht glauben. Heute sagt sie: "Es hat mich angewidert."

Berscheids Doktorandin Dion hatte in der Kita der University of Minnesota untersucht, warum einige Kinder beliebter waren als andere. War es ihre ruhige Art? Ihr freundliches Wesen? Die Erklärung war erschreckend einfach: Je hübscher die Kinder waren, desto beliebter waren sie bei anderen Kindern. Je hübscher sie waren, desto eher wurden sie als genügsam wahrgenommen, umso seltener als Querulanten. Nicht ihr Charakter, nicht ihr Verhalten bestimmten über Sympathie und Antipathie – sondern ihr Aussehen.

Berscheid erinnerte sich an eine Untersuchung der Psychologin Elaine Walster wenige Jahre zuvor. Walster hatte wie viele Sozialpsychologen zu jener Zeit herausfinden wollen, was bei der Partnerwahl den Ausschlag gibt: Die Intelligenz? Die Vertrauenswürdigkeit? Ein tolerantes Wesen?

Die Psychologin Ellen Berscheid © privat

Die Psychologin hatte für ihre Studie einen Ball für Studierende des ersten Semesters veranstaltet. Sie alle mussten einen kurzen Fragebogen über ihre Persönlichkeit und ihre Erwartungen an das Date ausfüllen. Dann bekamen sie ein Date zugewiesen. Anschließend wurden die Teilnehmenden gefragt, wie sie ihren Partner fanden und ob sie ihn gern ein zweites Mal treffen wollten.

Was keiner der Beteiligten wusste: Die Ticketverkäufer am Eingang bewerteten, wie gut die Studierenden aussahen.

"Es war so deprimierend", sagt Berscheid. "Nichts von dem, was den jungen Leuten wichtig war, hatte einen Einfluss darauf, ob sie am Ende ein zweites Date wollten. Was zählte, war einzig, wie hübsch ihr Date war."

Ellen Berscheid ist heute 83 Jahre alt und eine emeritierte Professorin. Sie hat sich aus dem akademischen Leben zurückgezogen und lebt in Wisconsin in der Einsamkeit der Natur. Früh am Morgen steht sie auf, um den Rehen, den Waschbären und dem Igel Futter hinzustellen. Wenn sie heute am Telefon über ihre Studien von vor 50 Jahren spricht, wirkt sie hellwach. Sie sagt: "Die Ergebnisse haben mich damals wahnsinnig gemacht. Aber als Wissenschaftlerin muss man seinen Daten folgen, egal ob sie einem gefallen."

Berscheid, Dion und Walster taten sich zusammen und forschten weiter. Drei Frauen machten sich daran, der Welt zu beweisen, welche Macht die Schönheit über Menschen haben kann. Niemand, sagt Berscheid, habe anfangs glauben wollen, dass Schönheit überhaupt einen nennenswerten Effekt darauf habe, wie wir Menschen wahrnehmen und wie wir uns verhalten. Sie entwickelten eine Studie mit einem noch besseren Aufbau. Wieder waren die Ergebnisse eindeutig. Als die Studie 1972 veröffentlicht wurde, begannen Wissenschaftler zu verstehen, wie groß die Entdeckung war, der die drei Frauen auf der Spur waren.

Man kann den Mechanismus, den die Psychologinnen entdeckten, den Schön-ist-gut-Effekt nennen. Er ist heute eine der meistzitierten Erkenntnisse der Sozialpsychologie. Will man ihn in einen Satz fassen, ginge dieser so: Wir halten schöne Menschen für bessere Menschen. Für schlauer, moralisch integrer, begabter. Für vertrauenswürdiger und altruistischer. Wir vertrauen ihnen lieber Geheimnisse an. Kommt ein schöner Mensch auf dem Gehweg entgegen, machen wir ihm eher Platz. Richter verhängen mildere Strafen über schöne Menschen. Kinder schneiden in der Schule besser ab, wenn sie hübsch sind, Studierende besser an der Universität. Wir glauben sogar, dass schönere Menschen bessere und treuere Ehepartner sind. "Wie attraktiv wir sind, beeinflusst fast alle Bereiche unseres Lebens", sagt Ellen Berscheid.

Der Befund war so eindeutig, dass sich Forscher bald weitere Fragen stellten: Was, wenn an unseren Urteilen über schöne Menschen etwas dran ist? Wenn sie wirklich besser, moralischer, glücklicher sind?

Die Antwort, die Wissenschaftler seit den Siebzigerjahren bis heute fanden, ist so eindeutig wie der Schön-ist-gut-Effekt selbst: Es ist fast immer ein Irrtum zu glauben, schöne Menschen seien per se kompetenter oder moralisch besser. Genauso wie die Annahme falsch ist, unansehnliche Menschen seien in der Regel dümmer, fauler oder weniger vertrauenswürdig.

Schnell entstanden Hypothesen, die den Schön-ist-gut-Irrtum erklären sollten. Die vielleicht überzeugendste nannten Wissenschaftler den Halo-Effekt. Ein Halo ist auf Deutsch ein Nimbus oder Heiligenschein, und das Bild verdeutlicht gut, worum es geht: Menschen schließen oft unbewusst von einem Merkmal eines Menschen auf andere Merkmale. Wenn jemand etwa saubere, teure Kleidung trägt, denken wir, er sei wohlhabend und ordentlich. Hat er fettige Haare, nehmen wir an, er sei selbstvergessen.

Es ist wie mit dem Heiligenschein: Das Symbol der Rechtschaffenheit überstrahlt alles.

Berscheid, Walster und Dion wussten früh um diese Vorurteile. Als sie ihre Studien veröffentlichten, hatten sie eine Hoffnung. Wenn man den Menschen nur oft genug vor Augen führen würde, wie sehr der Schön-ist-gut-Effekt sie irren lässt, würden sie sich irgendwann davon befreien. Noch Jahre später schrieb Karen Dion über ihre Forschung: "Letztlich hoffe ich, dass dieses Wissen (…) uns Erkenntnisse liefern wird, die helfen, seinen Einfluss zu überwinden."

Das war der Traum des Jahres 1969: eine aufgeklärte Gesellschaft, die lernt, die Macht der Schönheit zurückzudrängen, so, wie sie schon andere Vorurteile bekämpft hat. Nun, da das Wissen in der Welt ist: Warum sollte das nicht möglich sein?

Die Fotos in diesem Artikel zeigen das britische Model Twiggy. In den Sechzigerjahren, als Ellen Berscheid die Macht der Schönheit erforschte, galt ihr Aussehen vielen als Schönheitsideal. © [M] Popperfoto/​Getty Images

Die Industrie

Ein regnerischer Montag im Oktober 2019, ein Glasbau in der Düsseldorfer Vorstadt. Im Foyer hängen Plakate mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Models, festgehalten vom Starfotografen Peter Lindbergh. Flakons, Tuben und Döschen sind in beleuchteten Glasvitrinen ausgestellt wie Kunstwerke in einem Museum. Die Konzernzentrale wirkt makellos wie die Schönheit, die die Firma verspricht, der das Gebäude gehört: Douglas, Marktführer für Kosmetikprodukte in Europa.

Nicole Nitschke bittet in einen Konferenzraum. Seit rund einem Jahr leitet sie das Deutschland- und Schweiz-Geschäft von Douglas. Man kann mit ihr lange über Schönheit reden, und doch ist es ein anderes Gespräch als mit der Psychologin Ellen Berscheid. Nitschke spricht von Beauty-Intensität, von Multi-Channel-Strategie, vom wachsenden Einfluss der Influencer auf Instagram. Sie erzählt von Teams, die täglich das Netz nach Trends und Bedürfnissen durchsuchen, nach immer neuen Wünschen der Kundinnen, sich zu verschönern und zu gestalten.

Für Nitschke ist die Macht der Schönheit etwas Gutes. Vor wenigen Monaten hat Douglas eine neue Kampagne gestartet, sie heißt #doitforyou. Nitschke sagt, darum gehe es ihren Kundinnen und Kunden – etwas für sich zu tun, sich zu verbessern. "Wenn ich morgens in den Spiegel schaue, nach einer langen Nacht, dann will ich diese Spuren beseitigen. Weil es mir Sicherheit gibt und ein anderes Selbstwertgefühl." Andere Kunden wollten sich einfach ausprobieren oder schön machen für jemanden, der ihnen wichtig sei. "Wir helfen den Menschen dabei, alles aus sich herauszuholen."