"Im Weltraum kann man den Gegner taub, stumm und blind machen" – Seite 1

Der Krieg in der Ukraine findet nicht nur am Boden statt, sondern auch hoch oben im Orbit: Satelliten fotografieren die Front, leiten Befehle an Drohnen weiter und versorgen das Kriegsgebiet mit Internet. Kein Wunder also, dass Militärs längst über Angriffe auf Satelliten nachdenken. Für die Sicherheitsexpertin Andrea Rotter ist das jedoch erst der Beginn eines Wettrüstens, das am Ende Folgen für die ganze Gesellschaft haben könnte.

ZEIT ONLINE: Frau Rotter, als die USA 2019 unter Donald Trump einen eigenen Zweig für Weltraumstreitkräfte gründeten, eine Space Force, hagelte es Spott. Jetzt sind Satelliten auf einmal ein wesentlicher Bestandteil des Kriegs in der Ukraine. Hat die Öffentlichkeit die militärische Bedeutung des Weltalls bisher unterschätzt?

Andrea Rotter: Ja, insbesondere in Deutschland setzt sich erst langsam die Erkenntnis durch, wie wichtig der Weltraum ist. Nicht nur für die Positionsdienste in unseren Smartphones, sondern eben auch für moderne Armeen. Diese sind längst auf Satellitendaten angewiesen: zur Kommunikation, Aufklärung, Navigation und Zielerfassung. Mit Angriffen auf Weltraumsysteme kann man den Gegner also zu einem gewissen Grad taub, stumm und blind machen.

ZEIT ONLINE: Ist im Krieg zwischen Russland und der Ukraine denn schon etwas davon zu sehen?

Rotter: Gleich am ersten Kriegstag gab es einen Cyberangriff auf das US-Unternehmen Viasat, das unter anderem in der Ukraine Satelliteninternet anbietet. Der Angriff störte auch die Kommunikation der ukrainischen Armee, weshalb ein Zusammenhang mit der Invasion naheliegt. Außerdem setzen die russischen Truppen, wie übrigens schon in früheren militärischen Konflikten, auf sogenanntes Jamming: Funkantennen auf speziell ausgerüsteten Lkw fluten die Frontgebiete mit Störsignalen, die Ortungsdienste des Gegners blockieren sollen.

ZEIT ONLINE: Das klingt beides eher nicht nach dem, was sich viele Menschen unter "Krieg im Weltall" vorstellen dürften. Viele denken dabei wohl an Laserwaffen und Geschosse im Orbit, wie sie sich der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan in den Achtzigerjahren ausmalte.

Rotter: So weit sind wir zum Glück noch nicht. Aber vier Nationen – Russland, China, Indien und die USA – haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten demonstriert, dass sie Satelliten abschießen können. Zuletzt hat Russland im November 2021 einen derartigen Test durchgeführt.

ZEIT ONLINE: Dabei hat eine russische Boden-Luft-Rakete einen ausgedienten Satelliten aus Sowjetzeiten zerstört. Die Trümmer kreisen nun um die Erde und sind eine Gefahr für Satelliten und die Internationale Raumstation ISS.

Rotter: Genau. Derartige Tests sind unverantwortlich, da sie für mehr Weltraumschrott sorgen und damit die weitere Nutzung des Weltalls erschweren, und zwar für alle. So paradox es klingt: Der Weltraum ist eine begrenzte Ressource. Trümmer aus Kollisionen und Satellitenabschüssen könnten manche Flughöhen so gefährlich machen, dass wir dort keine Satelliten und Raumstationen mehr betreiben können. US-Vizepräsidentin Kamala Harris hat deshalb vor Kurzem angekündigt, dass die USA künftig auf Tests von Antisatellitenwaffen verzichten wollen. Allerdings sind es letztlich gar nicht die Abschüsse, die mir und vielen anderen Sicherheitsexperten die größten Sorgen bereiten.

ZEIT ONLINE: Nein?

Rotter: Es ist recht unwahrscheinlich, dass Russland nun westliche Satelliten vom Himmel holt. Aufwand und Ertrag stehen dabei einfach in keinem guten Verhältnis. Erstens gefährdet neuer Weltraumschrott nicht nur die Infrastruktur des Gegners, sondern auch die eigene. Zweitens wandeln sich moderne Satellitensysteme derzeit stark: Anstelle einzelner großen Satelliten sehen wir immer mehr Netzwerke aus kleineren Exemplaren – der Ausfall einzelner Satelliten wird dadurch weniger bedeutend. Und drittens könnte der Angriff auf einen Satelliten der Alliierten durchaus den Nato-Bündnisfall auslösen, das haben die Mitgliedstaaten erst im Januar nochmals bekräftigt.

ZEIT ONLINE: Das klingt einerseits beruhigend. Andererseits gibt es ja auch diskrete Methoden, einen gegnerischen Satelliten auszuschalten, richtig?

Rotter: Ja, das Spektrum an Antisatellitenwaffen ist breit. China hat kürzlich etwa einen seiner Satelliten dazu genutzt, einen anderen seiner Satelliten per Greifarm in einen höheren Orbit zu schleppen. Das ist zunächst einmal nur ein ziviles Manöver, das der Wartung oder der Beseitigung von Weltraumschrott dienen kann. Aber im Grunde könnte man damit auch einen gegnerischen Satelliten attackieren.

ZEIT ONLINE: Das würde aber von den betroffenen Nationen sicherlich auch als Angriff wahrgenommen, oder?

Rotter: Wenn ein Satellit durch solch ein Manöver zerstört würde, wahrscheinlich schon. Aber man kann aus der Nähe auch einfach nur zeitweise den Funkverkehr stören oder die Sensoren des Satelliten blenden. Das ist eine Grauzone, bei der nicht klar wäre, wie die Nato reagieren würde. Man sucht hier noch nach einer verhältnismäßigen Antwort, ganz ähnlich wie bei Cyberangriffen. Vermutlich ist es das, was man sich heute unter Krieg im All vorstellen muss: Man erschwert es dem Gegner, weltraumgestützte Fähigkeiten zu nutzen – ohne dabei jedoch die eigenen Systeme zu gefährden.

ZEIT ONLINE: Gibt es Indizien dafür, dass Russland so etwas plant?

Rotter: Es gab in der Vergangenheit wiederholt Vorfälle, bei denen sich russische Satelliten westlichen auffällig angenähert haben. Frankreich etwa hat 2017 von solch einem unangekündigten Rendezvous-Manöver berichtet und einen Spionageversuch vermutet. Paris hat seitdem angekündigt, seine Satelliten "aktiv" verteidigen zu wollen, etwa durch Laserwaffen, die attackierende Satelliten blenden oder beschädigen könnten. Russland, China und die USA arbeiten an vergleichbaren Systemen.

Frankreich will seine Satelliten mit Laserwaffen verteidigen

ZEIT ONLINE: Das klingt schon eher wie das, was sich Ronald Reagan einst vorgestellt hat … und gleichzeitig wie der Beginn eines potenziellen Wettrüstens.

Rotter: Ja, das ist die große Sorge. Das Völkerrecht ist inzwischen weit hinter die technologischen und politischen Entwicklungen zurückgefallen. Im Weltraumvertrag von 1967 hat sich die internationale Gemeinschaft zwar darauf geeinigt, keine Atomwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen im All zu stationieren. Für andere weltraumbezogene Waffensysteme, ob im Orbit oder auf der Erde, gilt das bislang aber nicht.

ZEIT ONLINE: Gibt es denn wenigstens Bestrebungen, das zu ändern?

Rotter: Die EU hat zweimal einen nicht verbindlichen Verhaltenskodex vorgeschlagen, der allerdings keine internationale Mehrheit fand. Aktuell gibt es im Wesentlichen zwei unterschiedliche Auffassungen davon, wie man die Situation regeln sollte. Einmal die Haltung der USA: Sie drängt auf Normen für ein verantwortungsvolles Verhalten im Weltraum, was zerstörerische Handlungen in der Schwerelosigkeit ausschließen soll. Das passt jedoch nicht wirklich zu der Vorstellung von Russland und China, die einen völkerrechtlich bindenden Vertrag vorschlagen, der die Stationierung von Waffen im Weltraum explizit verbietet.

ZEIT ONLINE: Spontan klingt es so, als wären die beiden Positionen gar nicht so weit voneinander entfernt.

Rotter: Na ja, die USA wenden zu Recht ein, dass beim russisch-chinesischen Vorschlag Lücken blieben, nicht zuletzt bei Waffen, die vom Boden aus starten. Außerdem: Wie definiert man überhaupt, was eine Weltraumwaffe ist? Das Beispiel mit dem chinesischen Abschleppsatelliten zeigt ja, dass das nicht immer eindeutig ist. Auch entwickelt sich die Technologie derzeit so schnell, dass völkerrechtliche Verträge zu bestimmten Waffengattungen womöglich schon wieder veraltet sind, wenn sie in Kraft treten.

ZEIT ONLINE: Mit Russlands Überfall auf die Ukraine ist jegliche Einigung vermutlich ohnehin in weite Ferne gerückt.

Rotter: Ja, das befürchte ich auch. Die Gesprächskanäle zwischen den USA und Russland, die sich zuletzt zu sicherheitspolitischen Fragen ausgetauscht haben, sind verstummt. Auch die Zusammenarbeit in der zivilen Forschung mit Russland – von der ISS einmal abgesehen – liegt derzeit auf Eis. Immerhin gibt es bei der UN auf Initiative Großbritanniens einen neuen Kompromissvorschlag, der die Gefahr eines Wettrüstens im Orbit verringern soll.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielt eigentlich Deutschland bei dem Thema?

Rotter: Ähnlich wie Großbritannien oder Frankreich hat die Bundeswehr seit 2021 ein militärisches Weltraumkommando, das der Luftwaffe unterstellt ist. Dort hat man im Wesentlichen Strukturen und Dienstposten gebündelt, die es schon länger gibt. Gegenwärtig unterstützt das Kommando die Bundeswehr mit Satellitendaten und überwacht den erdnahen Weltraum.

ZEIT ONLINE: Ist das genug, um international in diesem Bereich ernst genommen zu werden?

Rotter: Bisher sind wir in der Tat noch stark von Daten aus den USA abhängig. Unsere Forschung und Industrie im Bereich Weltraum sind hingegen definitiv konkurrenzfähig. Das Verteidigungsministerium hat schon länger erkannt, dass der Weltraum eine wichtige strategische Dimension ist. Bei der Politik bin ich mir hingegen noch nicht so sicher: In den meisten Wahlprogrammen der Parteien zur Bundestagswahl tauchte der sicherheitspolitische Blick aufs All jedenfalls kaum oder gar nicht auf.

ZEIT ONLINE: Was wären denn die Folgen für die Gesellschaft, wenn es zu einem gezielten Angriff auf Satelliten des Westens käme?

Rotter: Auch wenn das vielen Menschen nicht bewusst ist, zählen Satelliten zur kritischen Infrastruktur – und zwar nicht nur im militärischen Sinne. So würden wir den Ausfall von Wetter-, Kommunikations- oder Navigationssatelliten deutlich spüren, schließlich nutzen wir diese Dienste täglich. Auch die Börsen und der internationale Zahlungsverkehr laufen längst über Satellitennetzwerke. Fielen sie auf einmal aus, würde das auf der Erde für erhebliche Probleme sorgen.

ZEIT ONLINE: Wie verändern eigentlich Akteure wie Elon Musk die Lage? Dessen Firma SpaceX hat mit seinem Starlink-Projekt ja kurzerhand dabei geholfen, die Ukraine weiter mit Satelliteninternet zu versorgen. Und vor Kurzem wurde bekannt, dass das Pentagon Musks Raketen womöglich dazu nutzen will, Güter um die halbe Erde zu transportieren.

Rotter: Ja, das ist Teil eines Paradigmenwechsels, den wir seit geraumer Zeit erleben. Im Kalten Krieg waren fast ausschließlich Staaten im Weltall aktiv, jetzt drängt mehr und mehr der privatwirtschaftliche Sektor dorthin. Dadurch verwischen die Grenzen zwischen ziviler und militärischer Raumfahrt. Etwa wenn Firmen wie SpaceX Innovationen hervorbringen, die dann auch vom Militär genutzt werden können.

ZEIT ONLINE: Im All sieht man derzeit, dass sich zwei Lager formieren: der Westen rund um die USA und eine chinesisch-russische Achse. Beide planen Außenposten auf dem Mond. Schreiten in zehn oder 20 Jahren nicht nur Astronautinnen über die Mondoberfläche, sondern auch bewaffnete Soldaten?

Rotter: Der Weltraumvertrag von 1967 verbietet grundsätzlich die militärische Nutzung des Mondes und anderer Himmelskörper. Derzeit geht es auf dem Mond ja in erster Linie um zivile Forschung und darum, zukünftige Reisen zum Mars vorzubereiten. Was in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird, ist der Wettstreit um Ressourcen. Da erleben wir gerade definitiv den Beginn eines Wettrennens zwischen China und den USA – die geopolitische Rivalität zwischen beiden weitet sich also allmählich auch aufs Weltall aus.

ZEIT ONLINE: Wofür plädieren Sie?

Rotter: Gerade in Europa müssen wir verinnerlichen: Die großen Militärmächte betrachten das All als Kriegsschauplatz und arbeiten an offensiven Fähigkeiten. Künftig werden militärische Konflikte im Weltall beginnen oder zumindest dort in Teilen ausgetragen werden: sei es mittels Störsendern, Cyberangriffen oder vielleicht irgendwann auch Laserwaffen, die die Sensoren von Satelliten beschädigen. Das heißt einerseits, dass wir unsere Satelliten vor Angriffen besser schützen müssen. Andererseits benötigen wir so schnell es geht eine völkerrechtliche Vereinbarung zu weltraumbezogenen Waffensystemen, auch wenn der Weg dorthin wohl nicht einfach wird.